Arbeitsmarkt: Die Ausbeutung von Wanderarbeitern in Deutschland
Armut hat viele Gesichter. Ausbeutung auch. Und es gibt sie auch in einem reichen Land wie Deutschland. Betroffene schildern, wie ihnen grundlegende Rechte vorenthalten werden. Und wie im Ernstfall keiner etwas davon wissen will.
Von Ludger Fittkau | 21.03.2022 (ausgestrahlt in der DLF-Sendung "Hintergrund Politik")
Die Datenlage ist schwierig. Wie viele Millionen Menschen in Europa ihr Land verlassen, um in einem anderen Land zu arbeiten, ist schwer zu erfassen. In der Pandemie kehrten zudem viele Wanderarbeitende gezwungenermaßen zurück in ihre Heimatländer. Eines aber lässt sich sagen: Die Lebens- und Arbeitsbedingungen sind oft schlecht.
Schon vor vielen Jahren schrieb die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung, dass auch in Deutschland europäische Werte von sozialer Absicherung und menschenwürdiger Unterkunft mit Füßen getreten würden. Hat sich daran bis heute etwas geändert?
„Belgien, Tschechien, Zypern, Italien“ – Constantin zählt die europäischen Länder auf, in denen er in den letzten Jahren als Wanderarbeiter auf Baustellen gearbeitet hat. Alexandru Firus sitzt gemeinsam mit dem 41 Jahre alten Rumänen in einer türkischen Imbissbude in einem Arbeiterstadtteil von Frankfurt am Main. Es gibt Tee, Alexandru übersetzt: „Ich hätte gedacht, es ist genauso wie Belgien, Italien, Zypern, wo es in Ordnung war.“ Aber, nichts ist in Ordnung in Frankfurt am Main für Constantin. Er sagt: Er hätte nie geglaubt, dass auf einer deutschen Baustelle Menschen körperlich verschlissen werden um einen Kran, der eigentlich nötig wäre, einzusparen: „Um diesen Mangel auszugleichen, muss er richtig anpacken. Genau mit seinen Worten: Wieso noch einen Kran mieten, weil sie haben diese dummen Rumänen, die ihren Rücken krummmachen.“ Alexandru Firus, der das Gespräch mit Constantin möglich gemacht hat, hat in Frankfurt am Main Wirtschaftsgeografie studiert und arbeitet für das PECO-Institut e.V., das sich auf seiner Internet-Seite als „gewerkschaftsnaher Bildungsträger“ vorstellt. Das Institut berät Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter aus Osteuropa.
Rund 50.000 rumänische Bauarbeiter, so schätzt Alexandru Firus, arbeiten zurzeit auf deutschen Baustellen – häufig ohne den Schutz von Tarifverträgen. Firus beobachtet, dass die nicht selten von Serben kontrollierten Firmen den rumänischen Arbeitern etwa Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, sowie Urlaubs- oder Kindergeld verweigern. Auch würden die Bauarbeiter in großem Umfang zur Schwarzarbeit gezwungen, sagt er: „Ich würde sagen, das ist deutschlandweit. Solche Geschichten mit unbezahltem Urlaub hören wir aus Freiburg, Mannheim, hören wir aus Bayern, wir haben das gleiche Gefüge einer Mafia.“
Auch die deutschen Zollbehörden sprechen von „organisierter Kriminalität“ auf dem Bau – mit einem Schwerpunkt in Hessen und dem Rhein-Main-Gebiet. Noch im Herbst letzten Jahres ließen das Hauptzollamt Gießen und die Staatsanwaltschaft Kassel mehr als 500 Einsatzkräften von Zoll, Polizei und Steuerfahndung zeitgleich 44 Wohnungen und Geschäftsräume mit Schwerpunkt in Hessen durchsuchen. Das Hauptzollamt Gießen teilte dazu schriftlich mit: Der Bande wird gewerbsmäßiger Betrug sowie Hinterziehung von Steuern und Sozialabgaben in Millionenhöhe vorgeworfen. Sie sollen Bauaufträge im gesamten Bundesgebiet mit Schwarzarbeitern und illegalem Personal ausgeführt und so den Sozialkassen und dem Fiskus Sozialversicherungsbeiträge und Steuern in Höhe von rund 2,5 Millionen Euro vorenthalten haben.“
Die Hauptleidtragenden dieser Kriminalität sind die Wanderarbeitenden. Denen werde bisweilen auch körperliche Gewalt angedroht, wenn sie mit dem Zoll zusammenarbeiten, schildert Alexandru Firus vom PECO-Institut. Er übersetzt das, was ein rumänischer Bauarbeiter schildert, der unerkannt bleiben möchte: „Ein Serbisch-Stämmiger habe ihm gesagt: Hey, wir sind seit 20 Jahren hier, ihr seid Neuankömmlinge, mit dem Zweck, ihm deutlich werden zu lassen, wer hier herrscht. Auf dieser Baustelle.“
Große Baufirmen, die auch öffentliche Aufträge erhalten, lassen sich jedoch immer wieder auf Verträge mit zweifelhaften Subunternehmen ein, weil sie damit ihre Angebote an die Auftraggeber günstiger gestalten könnten, so Alexandru Firus. Für die rumänischen Bauarbeiter, die unter diesen Strukturen leiden, zu denen auch oft karge Unterkünfte gehören, sei das sehr frustrierend: „Die sehen sich als Opfer und als unterdrückte Gruppe.“
Die von den deutschen Behörden zu schlecht geschützt werde – auch in den Wohnheimen, in denen sie oft von den Baufirmen untergebracht werden. Alexandru Firus hat Constantin dabei geholfen, bei der Frankfurter Polizei einen Diebstahl in seinem Wohnheimzimmer anzuzeigen, in den womöglich auch eine Baufirma verwickelt war. Seine These zum Überfall auf den 41-jährigen Wanderarbeiter aus Rumänien: „Er hat in einer Firmenunterkunft gewohnt, aber es war nicht die Unterkunft der Firma, sondern sie wurde von einer anderen Firma angemietet. Und diese andere Firma hat kurzfristig neue Leute eingestellt aus dem Ausland. Auf einmal haben die begriffen: Okay, wir haben nicht genug Unterkunftsmöglichkeiten für diese Leute. Oh – wir haben doch dieses Haus da. Aber das ist untervermietet. Egal. Dann sind sie eingebrochen.“
Während Alexandru Firus berichtet, zeigt mir Constantin ein Handy-Foto von der eingeschlagenen Tür seines Zimmers: „Die haben die untervermieteten Leute rausgeschmissen mit den Sachen und noch dazu ausgeraubt.“
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main laufen noch, erfährt der Deutschlandfunk auf Nachfrage. Lea-Maria Löbel arbeitet für die Internationale Arbeitsorganisation ILO, einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf. Die ILO hat 187 Mitgliedstaaten, die mit der gleichen Anzahl von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen zusammenkommen, um gemeinsame internationale Arbeits- und Sozialstandards zu erreichen. Gerade die EU-Länder profitieren stark von den Wanderarbeitenden auf dem Kontinent, so Löbel: „24 Prozent der Arbeitsmigrantinnen und Migranten sind in Nord-, West- und Südeuropa angesiedelt. Sie machen dort 18,4 Prozent der Erwerbsbevölkerung aus. Und sie haben auch eine viel höhere Arbeitskraft-Beteiligung als die erwerbsfähige Bevölkerung hier. Das heißt, sie gehen dahin wo Arbeit ist und wo sich für sie Arbeit lohnt und wir profitieren zum Beispiel hier in Deutschland davon, dass sie einen Teil der Infrastruktur mit stemmen, sei es im Gesundheitssektor, im Transportwesen, im Agrarbereich oder im Bausektor.“
Lea-Maria Löbel bestätigt das, was auch die Bauarbeiter in Frankfurt am Main berichten: Sie werden auf den Baustellen deutlich schlechter bezahlt als die wenigen Deutschen, die noch dort arbeiten: „Wir haben in der ILO dazu auch Daten erhoben, wie Migrantinnen und Migranten im Vergleich zur Bevölkerung selbst bezahlt werden und haben dort rausgefunden, dass global gesehen Arbeitsmigrantinnen und Migranten zirka 12 bis 13 Prozent weniger Lohn pro Stunde verdienen, als die Staatsangehörigen in den Ländern, in denen sie arbeiten und zwar vor allem in den Hocheinkommensländern. Man könnte jetzt erstmal meinen: Okay, Migrantinnen und Migranten haben vielleicht einen niedrigeren Bildungsstand und sie haben weniger Sprachkenntnisse und sind dementsprechend auch anders eingebunden in der Arbeitswelt. Gleichwohl verfügen viele von ihnen tatsächlich über höhere Grundqualifikationen und die können sie dann in dem Land, in dem sie eingestellt werden, nicht gewinnbringend einbringen. Das ist definitiv etwas, was wir in den Daten sehen.“
Die seit 1996 gültige Europäische Entsenderichtlinie für alle Beschäftigten im EU-Binnenmarkt fordert soziale Mindeststandards für ausländische Firmen, die hierzulande aktiv sind. Doch in der Baubranche sind es vor allem in Deutschland angemeldete Firmen, die das betreiben, was eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung bereits im Titel „Geschäftsmodell Ausbeutung“ nennt: „Auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben sich düstere Nischen gebildet, wo die grundlegendsten sozialen Errungenschaften für mobile Beschäftigte aus östlichen EU-Ländern nicht mehr gelten. In dieser Schattenwelt diktieren Arbeitgeber willkürlich die Wochenarbeitszeit, umgehen trickreich Mindestlöhne, verändern abgeschlossene Verträge nach Belieben nachträglich, kürzen systematisch Löhne oder unterschlagen sie, zahlen keine Lohnfortzahlungen bei Krankheit oder Urlaub und gewähren keinen Kündigungsschutz.“
Die Bauarbeiter wehren sich auch deshalb oft nicht gegen diese kriminellen Machenschaften, weil die Arbeitgeber ihnen auf der anderen Seite ein paar Euro pro Stunde als Schwarzgeld anbieten. Ein Bauarbeiter, der seinen Namen nicht nennen will: „Er meint, wir Rumänen sind hier in Deutschland, um Geld an die Familien zu überweisen. Und deswegen nehmen wir auch, was uns schwarz angeboten wird. Wir brauchen das Geld, deswegen sind wir hier. Das ist auch ein Grund, warum sie sich nicht dagegen wehren.“
Gegen die Arbeitgeber, die ihnen etwa eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verweigern oder ausreichende Arbeitssicherheit auf der Baustelle. „Er meint: Wir bauen Deutschland auf, aber was haben wir davon? Er fühlt sich wie im Krieg, weg von der Familie, nur unter Männern, weit weg, in sehr prekären Umständen.“
In der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel „Geschäftsmodell Ausbeutung“ wird von einem Fall aus Frankfurt am Main berichtet, bei dem sich 13 rumänische Bauarbeiter einmal gemeinsam gegen die Entwürdigung wehrten: „Anwerber hatten den Rumänen einen Arbeitsvertrag versprochen, der ihnen 1.200 Euro im Monat einbringen sollte, außerdem sicherte man ihnen freie Unterkunft, Transport und Verpflegung zu. In Deutschland jedoch wurde ihnen alles vom Lohn abgezogen: Es blieben 1,09 Euro pro Stunde. Die Bauarbeiter waren zuerst in einer leeren Fabrikhalle untergebracht, in der sich 50 Arbeiter eine Toilette teilten, anschließend übernachteten die 13 in einer einzigen Dreizimmerwohnung.“ Dann legten sie die Arbeit nieder.
Heute wird Wanderarbeitenden in Frankfurt am Main in kargen Wohnheimen ein Schlafplatz für 300 Euro vermietet – im Mehrbettzimmer. Bad und Toilette auf dem Gang müssen sich die Arbeiter elf Monate mit acht anderen Männern teilen. Bevor sie dann einmal im Jahr für ein paar Wochen nach Hause fahren – ohne Urlaubsgeld. Dennoch sind die vielleicht 1.000 bis 1.500 Euro, die monatlich an die Familien in Rumänien überwiesen werden können, so wichtig, dass die Arbeiter die meist lange Abwesenheit von zuhause ertragen – oft aber nur mit viel Alkohol. Alexandru Firus führt mich in ein Zimmer mit zwei Betten, in dem ein angetrunkener Bauarbeiter auf die Frage antwortet, wie sein Leben hier ist: „Traurig und bitter.“ – „Warum?“ Der Bauarbeiter antwortet auf Deutsch: „Keine Familie hier, keine Kinder. Und die Chefs vom Rohbau – alles Arschlöscher, ja! Für mich ist Deutschland nicht mein Haus.“
Ortswechsel. Im Büro des Europäischen Vereins für Wanderarbeiterfragen in Frankfurt am Main sitzt die 42 Jahre alte Bulgarin Borislava Ivanova. Im vergangenen Jahr wurde ihr Chef verhaftet – er betrieb eine Reinigungsfirma, die viele Gebäude der Stadt Frankfurt am Main betreute. Borislava Ivanova reinigte vor allem ein Städtisches Gymnasium, bevor ihre Firma in den Blick der Zollfahndung geriet. Wie im Baugewerbe, geht es auch hier um den Verdacht, das Steuern und Sozialabgaben in Millionenhöhe nicht gezahlt wurden. Die Firma ging pleite, seit einem Jahr wartet Borislava Ivanova auf Lohnzahlungen, die ihr noch zustehen.
Sie appelliert nun an die Stadt Frankfurt am Main, deren Gebäude sie jahrelang gereinigt hat: „Ich sage so: Muss die Stadt Frankfurt antworten. Warum zahlt die Stadt Frankfurt nicht mein Geld? Ich habe immer für die Stadt die Grundreinigung gemacht, die sagten `Danke schön´ Wo ist jetzt die Stadt Frankfurt?“
Am Schreibtisch gegenüber sitzt Velislava Firova. Die bulgarische Rechtsanwältin arbeitet als Beraterin im vom Bund geförderten Projekt „Faire Mobilität“ des Europäischen Vereins für Wanderarbeiterfragen. Sie hat für mehrere Gebäudereinigungskräfte, die durch die Verhaftung des Firmenchefs bisher nicht an noch ausstehende Löhne kamen, den Brief an die Stadt Frankfurt am Main geschrieben. Die Verwaltung also, für die die Leute geputzt hatten: „Wir haben das Geld für die geleisteten Stunden gefordert, wie es das Gesetz vorgeschrieben hat.“ Der allerdings im Gefängnis sitzt. Nicht nur auf den Lohn für ihre Arbeit warten die Reinigungskräfte auch ein Jahr später noch – monatelang bekamen sie auch ihre Arbeitspapiere nicht zurück und konnten damit nur schwer eine neue Beschäftigung aufnehmen. Velislava Firova zeigt dem Deutschlandfunk ein Schreiben der Stadt Frankfurt am Main, in dem den Betroffenen mitgeteilt wird, dass die Stadt für die Probleme von externen Dienstleistungsfirmen nicht zuständig sei. Die bulgarische Rechtsanwältin will das nicht hinnehmen: „Warum müssen diese Leute vor Gericht gehen, um diese Situation zu klären? Wir würden uns freuen, wenn jemand mit uns sprechen will.“
Die Frankfurter Rechtsanwältin Velislava Firova erklärt, warum immer wieder bulgarische Arbeiterinnen und Arbeiter in die Fänge dubioser Gebäudereiniger-Firmen geraten. Es seien nicht zuletzt Roma, die von den Anwerbern aus Deutschland ausgenutzt werden: „In Bulgarien gibt es bestimmte Regionen, wo es große Arbeitslosigkeit gibt. Und oftmals werden Leute aus solchen Regionen ausgenutzt.“
Anwerber kommen direkt in kleine Dörfer und versprechen den Menschen, die nach Westeuropa kommen wollen, eine Art `Rundum-Sorglos-Paket´. Sie habe das einmal selbst erlebt, berichtet Velislava Firova: „Jemand kam in eine kleine Stadt und warb Mitarbeiter für Holland, für die Landwirtschaft. Genau so funktioniert es: Es kommt jemand, der schon hier Kontakte zu den Arbeitgebern hat und das sind dann meistens Arbeitgeber, die nicht ganz korrekt sind. Sie sagen zum Beispiel: Ich brauche für Deutschland 20 Männer für den Bau. Und Wohnung und alles ist zur Verfügung gestellt. Und das ist der Teufelskreis, mit dieser Aussage, alles ist zur Verfügung gestellt.“ Denn das bedeutet auch totale Abhängigkeit von Firmen. Denn es fehlen die Sprachkenntnisse, um sich gegen die drohende Ausbeutung zur Wehr zu setzen: „Ich hatte schon solche Meldungen: Frau Firova, wir bekommen schon drei Monate kein Gehalt, aber wir können nichts sagen, weil der Chef sagt: Morgen fährst Du nach Bulgarien zurück. Und es ist sehr schwierig, in dieser Situation eine passende Lösung zu finden.“
Die Internationale Arbeitsorganisation ILO sieht es kritisch, wenn Wanderarbeitende neben der Arbeit auch die Unterkunft von der Firma bekommen, bei der sie beschäftigt sind. Grundsätzlich gäbe es internationale Regelungen, die eine menschenwürdige Unterkunft fordern, so Lea-Maria Löbel: „Zum Beispiel im Übereinkommen 97 über Wanderarbeit. Dort geht es ganz klar darum gute Unterkünfte bereitzustellen, wenn Unterkünfte bereitgestellt werden. Ein weiterer Punkt ist natürlich bei dieser Unterkunft, das Arbeitgeber dafür Geld bekommen, das heißt, einen Teil des Lohnes direkt einbehalten. Und das ist natürlich auch eine schwierige Praxis, so ist man ja auch in Abhängigkeit. Zum einen, weil der Lohn direkt gemindert wird, Und angenommen, man wehrt sich, man will für den Arbeitgeber nicht mehr arbeiten, dann ist man auch ganz schnell seine Unterkunft los, das ist natürlich wahnsinnig belastend, das trauen sich dann viele nicht.“ Die ILO konzentriert sich in ihrer Arbeit darauf, die Anwerbeverfahren in der internationalen Wanderarbeit transparenter und für Behörden kontrollierbarer zu machen. Auch die 50-Jahre alte Ralitsa Miladinova und ihr 55 Jahre alte Mann Svetoslav haben jahrelang kommunale Gebäude und auch das Deutsche Architekturmuseum in der Mainmetropole geputzt. „Kitas und Schulen hier in Frankfurt.“ Bevor ihre Firma insolvent war und sie ihren Löhnen hinterherlaufen mussten. Genauso wie die 44 Jahre alte Fani Mihova Sasheca und ihr gleichaltriger Mann Alyosha. Eine Gruppe bulgarischer Roma wurde ebenfalls um ihren Lohn geprellt, so die Rechtsanwältin Velislava Firova: „Sie sind wirklich nicht alphabetisiert. Aber sie haben viel gearbeitet. Sie haben die Toiletten in den U-Bahnstationen in Frankfurt sauber gemacht und zwar viele Stunden geleistet.“
Für ihre ganze Familie sei die Verhaftung ihres Chefs ein großes Unglück gewesen, erzählt Gebäudereinigerin Borislava Ivanova. Denn vier Familienmitglieder hätten am Ende bei der Firma gearbeitet – alle haben ihren Job verloren. Die Familie konnte die Miete für die Wohnung nicht mehr bezahlen. Sie lebt nun mit ihrem 17 Jahre alten Sohn in einer Ein-Zimmer-Wohnung, der Rest der Familie musste notgedrungen wieder nach Bulgarien zurückkehren. „Vier Monate lebe ich jetzt auf einem Zimmer, das geht nicht. Mein Sohn ist 17 Jahre alt.“
Der rumänische Bauarbeiter Constantin will keinesfalls auf Dauer in Deutschland bleiben. Vielleicht wandert er nach Belgien weiter. Dort war er schon einmal, hat im Hafen von Antwerpen gearbeitet. In Belgien gab es besseren Arbeitsschutz, sagt er. Die Löhne wurden überdies pünktlich und korrekt ausgezahlt – anders als oft in Deutschland. Doch bevor er Frankfurt am Main endgültig verlässt, will Constantin noch um das Geld kämpfen, das ihm hier noch zusteht: „Er will jetzt gerichtlich vorgehen gehen gegen ehemalige Arbeitgeber, die Sachen von ihm einbehalten haben. Er will das klären. Er sagt, wenn diese offenen Fragen nicht gewesen wären, dann wäre er nicht nach Deutschland zurückgekommen.“
Alexandru Firus, der Mitarbeiter des PECO-Institut für nachhaltige Regionalentwicklung in Europa hält es für dringend erforderlich, dass mehr Beraterinnen und Berater mit Sprachkenntnissen für die Betreuung der europäischen Wanderarbeitenden eingestellt werden. So sieht das auch die Internationale Arbeitsorganisation ILO. Auch sie plädiert für einen europaweiten Ausbau des Beratungsnetzes für Wanderarbeitende. Lea-Maria Löbel: „Das heißt wir müssen – und da sind die Mitgliedstaaten gefragt – Infrastrukturen schaffen, die an allen Punkten zu jedem Zeitpunkt Informationen bereitstellen, Hilfsmöglichkeiten bereitstellen.“ Und diese Strukturen seien teilweise bereits da und teilweise noch nicht. In der hiesigen Gebäudereinigungs- und Baubranche müsse jedenfalls dringend mehr gegen Ausbeutung geschehen, sagen die Fachleute vor Ort.
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Auszug aus einer Reportage, die am 18.1.2022 leicht gekürzt in der Sendung "Hintergrund" im DLF gesendet wurde:
„Die haben sich kaputtgearbeitet“
- Geht man gut mit der alt gewordenen Gastarbeiter -Generation um? –
„Mein Name ist Jefri Ari. Ein paar Jahre glaube ich – fünf oder sechs Jahre – oder noch länger kommen wir fast jede Woche, manchmal zwei Mal hier hin. Dann bereiten wir jeden Dienstag ein Frühstück vor. Mehrere Frauen – manchmal über 35, stellen sie sich das vor.“
Jetzt in Corona-Zeiten fallen die regelmäßigen Treffen der älteren Migrantinnen im Bahnhofsviertel von Frankfurt am Main aus. Für die 73 Jahre alte ehemalige Fabrikarbeiterin Jefri Ari ist das hart:
„Jetzt wegen dieses Virus darf man nicht. Das ist ja nicht schön für uns. Jetzt sitzen alle zuhause und langweilen sich. Und manche bekommen eine Krise. Weil wir gewöhnt sind, mit Gruppen zusammen zu sein. Einen Ausflug gemacht und im Stadtteil irgendwo geparkt, spazieren gegangen. Und jetzt bleiben alle zuhause.“
Jefri Ari war 19 Jahre alt, als der Siemens-Konzern sie als Fabrikarbeiterin aus der Türkei nach München holte:
„Aber bevor ich kam, habe ich drei Wochen in Istanbul einen Sprachkurs gemacht. Drei Wochen lang.“
Diese drei Wochen, in denen sie ein paar Begriffe für den Arbeitsalltag in der Fabrik lernte, empfindet Jefri Ari noch heute fast als ein Privileg:
„Zufällig war ich dabei. Aber sonst - Gastarbeiter hatten ja keine solche Chance. Die kamen ja einfach so. Dann irgendwie das fremde Land, der Hauptbahnhof – aussteigen. Und dann gucken, wo soll man denn hingehen.“
„Die ersten Gastarbeiter, die hierhin kamen, nicht nur aus Italien, aus der Türkei, aus Marokko – die durften gar nicht Deutsch lernen.“
Sagt Mahshid Najafi. Die Rentnerin hat iranische Wurzeln und ist ehrenamtliches Mitglied des kommunalen Seniorenrates in Offenbach:
„Die durften gar nicht. Und jetzt sagt man: `Die ist über 50 Jahre hier und kann überhaupt kein Deutsch´. Na klar, warum sollten sie überhaupt Deutsch lernen, wenn der Arbeitgeber sie zehn, zwölf Stunden ausgebeutet hat.“
„Diese Menschen haben nach dem zweiten Weltkrieg maßgeblich am Wiederaufbau von Deutschland gearbeitet.“
Sagt Döne Gündüz. Sie ist Pädagogin und engagiert sich im Offenbacher Arbeitskreis Migration. Der wird unter von Wohlfahrtsverbänden und dem kommunalen Gesundheitsamt getragen:
„Sie haben sich, um mit einer platten Sprache zu sprechen, kaputtgearbeitet. Und jetzt, wo sie körperlich und psychisch einfach so verausgabt sind, denke ich, müssen wir als Gesellschaft hier ihnen auch etwas entgegenbringen.“
„Man kann jetzt das Älterwerden der ersten Generation, die wirklich als Arbeiter angeworben worden sind, nicht vergleichen mit den hiesigen älteren Menschen, weil die einfach körperlich ganz hart gearbeitet haben und dementsprechend auch viele Krankheitsbilder da sind - auch in der Realität.“
Betont auch die Offenbacher Sozialberaterin Perihan Öksüz.
„Und man muss auch sagen, dass diese Menschen harte Arbeit gar nicht gewöhnt waren. Die kamen aus der Landwirtschaft. Alleine die Wetterbedingungen waren schon für die ganz heftig.“
Perihan Öksüz hat auch ihren Vater vor Augen, der nach der Einwanderung beim Stahlkonzern Thyssen Arbeit bekam:
„Ich kenne meinen Vater, dass er bis zur Rente jeden Tag gearbeitet hat – in drei Schichten. Und ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals gesagt hat: Es ist zu viel. Obwohl wir alle wussten, dass es schon zu viel war. Das hat man auch körperlich dann am Ende gesehen.“
Die Siemens-Arbeiterin Jefri Ari erinnert sich, dass sie nicht unglücklich war, als sie als Neunzehnjährige vor mehr als fünfzig Jahren in München ihre Arbeit aufnahm. Denn sie sei damals im Wohnheim der Arbeiterinnen nicht allein gewesen:
„Wir waren 22 Mädchen. Zwei Freundinnen sogar aus der gleichen Stadt auf einem Zimmer. Wir hatten im Haus einen Dolmetscher, auch auf der Arbeit. Ich hatte Glück, ich hatte nicht viel Schwierigkeiten.“
Andere Arbeitsmigrantinnen und Migranten hatten mehr Integrationsprobleme. Das weiß auch Jefri Ari. Jeder vierte Mensch mit Einwanderungsgeschichte lebt hierzulande mit Armutsrisiko – bei Leuten ohne Migrationshintergrund sind es lediglich 14 Prozent. Migrantinnen und Migranten haben im Durchschnitt rund 300 Euro weniger Erwerbseinkommen als Menschen ohne Migrationshintergrund.
(Atmo Straße)
Ein Ladenlokal im Bahnhofsviertel von Frankfurt am Main. Auf dem Schaufenster ist beinahe lebensgroß eine Schwarz-Weiß-Zeichnung angebracht. Sie zeigt einen Mann von hinten. Mit einem Koffer in der Hand und einer Schiebermütze auf dem Kopf schreitet er voran. Aus der Sohle seines rechten Schuhs wachsen Baumwurzeln, die aus dem Boden rausgerissen sind. Auf dem Koffer die Aufschrift „Germany“. Daneben in gelber Schrift: „Hiwa! Beratungsstelle für ältere Migrantinnen und Migranten.“ Hiwa ist das kurdische Wort für Hoffnung. Yasemin Yazici-Muth leitet die Einrichtung, die zum Deutschen Roten Kreuz gehört. Vor Corona trafen sich hier jeden Dienstag bis zu 35 Frauen mit Migrationsgeschichte zum Frühstuck:
„Die Dienstagsgruppe, Da durften auch keine Männer rein. Die haben am Anfang richtig geschimpft. Wenn ein Mann hier die Tür geöffnet hat und den Kopf reingestreckt hat, das war schon schlimm. Mittlerweile sind die offener. Wenn ein Mann reinkommt sind die froh und fröhlich und flirten auch. Die sind offener. Die wollten immer einen eigenen Bereich als Café – als Pendant des klassischen türkischen Männercafés. Und diese Entwicklung ist schön, dass sie mutiger werden. Auch wegen den Sprachbarrieren. Trotz Fehlern, die sie machen reden die und stehen für sich ein. Und das ist wunderbar! Dass man keine Angst hat, auch wenn man die Sprache nicht kann.“
Auch die ehemalige Fabrikarbeiterin Jefri Ari hat regelmäßig an dieser Gruppe teilgenommen, bevor Corona kam. Außerdem genoss sie die Gruppenausflüge, die von hier aus organisiert wurden:
„Mindestens einen Tagesausflug. Manchmal auch zwei Übernachtungen. Zum Beispiel in Prag.“
Auch nach Italien sei eine Busreise gegangen:
„Ja, ja! Das ist wirklich sehr schön gewesen. Fast überall hin. Verschiedene Städte in Deutschland. Im Jahr zwei- oder dreimal mit dem Bus einen Tagesausflug, den haben wir gemacht.“
Die Organisatorin Yasemin Yazici-Muth hat gerade bei Auslandsreisen darauf bestanden, dass auch die Teilnehmenden mit türkischer Migrationsgeschichte ein paar Worte in der jeweiligen Landessprache sprechen lernen. Ob Italienisch oder Tschechisch. Das sei am Anfang gar nicht gut angekommen, erinnert sie sich:
„Mit jeder Reise, die wir gemacht haben, sind die mutiger geworden. Ich kenne sie ja noch als schüchtern und gar nicht auf sich achtend: Sondern eher fürsorglich für jemand anderen aber nicht fürsorglich auf sich selber bezogen. Diese Reisen haben sie mutiger gemacht, weil sie direkter mit ihren Bedürfnissen waren. Die haben ganz klar geäußert, was sie wollen und was sie nicht wollen. Für mich war das sehr sichtbar, wie viel mutiger sie wurden. Und das ist das Schönste für mich, dass sie dann unabhängiger werden.“
Was der Unabhängigkeit im Alter oft entgegensteht, ist die Sprachkompetenz. Dass die Migrantinnen und Migranten der sognannten „ersten Generation“ oft die deutsche Sprache nicht systematisch erlernen konnten droht im Ruhestand zu einem besonderen Nachteil zu werden. Das beobachtet Döne Gündüz vom Offenbacher Arbeitskreis Migration:
„Auf jeden Fall stellen die fehlenden Sprachkenntnisse eine große Barriere für den Zugang für alles dar. Zum Gesundheitssystem, zu den Freizeitangeboten, aber auch für das alltägliche Leben einfach dar. Ich bemerke einfach, je älter sie werden, nimmt auch die Sprachkompetenz, die eh gering vorhanden war, immer mehr ab. Und ich merke, wenn ich mit älteren Migranten der ersten Generation spreche, dann hat kaum einer von ihnen einen Integrationskurs damals bekommen, um eben die Sprache hier zu lernen und eben in dieser Gesellschaft anzukommen.“
Die Integration dieser sogenannten „Gastarbeiter-Generation“ wurde bei der Arbeitsaufnahme vor einem halben Jahrhundert verpasst. Nun drohe beim Älterwerden eine weitere Ausgrenzungserfahrung, befürchtet die Pädagogin Döne Gündüz:
„Und was ich tatsächlich auch beobachte, dass es auch bei dieser Gruppe - ähnlich wie in der Mehrheitsgesellschaft – zu einer Vereinsamung kommt. Dieser Gedanke der Mehrheitsgesellschaft, die leben doch on Großfamilien und da sind die Kinder und die Enkel allzeit bereit, mit denen Zeit zu verbringen, ich denke, dieses Bild muss aufgegeben werden.“
Denn Kinder und Enkelkinder dieser Migrationsgeneration der 1960er und 1970er Jahre nähmen nun am Erwerbsleben teil – auch die Frauen, so Döne Gündüz. Die Zeit für die Familie fehlt- wie in den Sozialstrukturen ohne Migrationshintergrund auch. In Herkunftsländern wie der Türkei habe sich ebenfalls das Familienbild verändert:
„Es ist ja nicht etwas, was bleibt, während es sich in Deutschland verändert, sondern auch in den Herkunftsländern hat das Familienmodell nicht mehr diese Gültigkeit. Und das finde ich noch einmal ganz wichtig, dies zu berücksichtigen. Wenn wir das bezogen auf Offenbach sehen, dann merken wir auch im Stadtbild immer mehr verwahrloste ältere Menschen – mit und ohne Migrationshintergrund. Ich denke, dass ist einfach ein gesamtgesellschaftliches Thema.“
Perihan Öksüz arbeitet bei Profamilia in Offenbach. Normalerweise macht sie Schwangerenkonfliktberatung. Doch manchmal kommen auch ältere Menschen mit türkischen Wurzeln zu ihr ins zentral gelegene Büro. Gerade alleinstehende Männer oder Witwen ohne Kinder, die nicht gut Deutsch gelernt haben, seien von Armut bedroht, berichtet sie:
„Ich kann mich erinnern, dass ich zufällig mal eine ältere Dame hatte, die im Frauenhaus war und ist dann auf der Straße gelandet. Sie wusste nicht wohin. Sie spricht kein Wort Deutsch, keiner war da. Mit diesem Drama kam sie zu mir und ist fast zusammengebrochen in der Beratung. Und ich glaube, die sehen wir auch selber kaum. Und das ist schon fatal, dass das so einen Rattenschwanz mit sich bringt.“
Spätestens, wenn Armut, Pflegebedürftigkeit oder gar Demenz droht, ist künftig immer mehr professionelle Hilfe nötig- da sind sich die Fachleute aus den Beratungsstellen im Rhein-Main-Gebiet einig. Gerade im Pflegebereich gibt es im Hinblick auf die alten Migrantinnen und Migranten noch viel zu tun. Das betont auch Mahshid Najafi vom Seniorenrat in Offenbach:
„Tatsächlich – ich glaube es ist nicht nur in Offenbach so, sondern überhaupt in Altersheimen, in Pflegeheimen: Man sieht kaum Migranten. Das hat verschiedene Gründe. Na klar, man bringt von der Kultur des Ursprungslandes mit, dass man die Alten nicht weggeben darf.“
Aber der Hauptgrund sei inzwischen, glaubt Mashid Najafi, dass sich die Heime immer noch genug nicht auf die Bedürfnisse der Migrantinnen und Migranten einstellen. Sie fordert deshalb eine Reform der Pflegeausbildung:
„Ich finde, in der Pflegeausbildung sollten Kenntnisse über migrationsspezifische Hintergründe und Lebenswelten mit einbezogen werden. Weil es sein kann, dass diese Frau oder dieser Mann geflüchtet ist und ein Kriegstrauma hat. Solche Sensibilisierung für Pflegekräfte ist sehr, sehr wichtig.“
Das fange aber nicht erst bei möglichen Fluchterfahrungen an, betont Mashid Najafi. Kultursensible Pflege reiche von den speziellen Wünschen in Sachen Körperpflege bis hin zum Festtagskalender:
„Wie haben 170 verschiedene Kulturen in Offenbach. Das heißt: Sogar kostenlose Dolmetscher wären nötig. Oder Feiertage derjenigen, die da sind, sollten auch betrachtet werden. Der 21. März ist unser Neujahr. Und für diejenigen, die religiös sind, sollte man nicht nur christliche Feste da feiern, sondern auch muslimische. Auch – keine Ahnung – buddhistische.“
Anna Aydemir ist Pflegedienstleiterin bei den Sozialdiensten des Deutschen Roten Kreuzes in Frankfurt am Main. Die kultursensible Pflege beginnt für sie mit dem ersten Kontakt:
„Das ist ganz, ganz wichtig. Das wird auch immer beim Erstgespräch mit erfragt, von welcher Person die Pflege durchgeführt werden soll. Weil – wenn man da schon den Wunsch übergeht, dann hat man eigentlich schon gar keinen Zugang mehr. Das ist enorm wichtig. So wie die typischen Dinge: Welche Lotion wird benutzt, welche Seife. Also alles, was ein Gefühl von Sicherheit gibt in dieser neuen Situation. Das erfragen wir und das binden wir mit ein. Und wollen so versuchen, eine neue Situation erträglicher zu machen, angenehmer.“
Doch gute Pflege – ob für Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund - braucht Geld. Das erklärt Carmen Scharf. Sie leitet beim DRK in Frankfurt am Main das Team, das im Bereich „Integration und Quartiersarbeit“ arbeitet. Die „Hiwa-Beratungsstelle für ältere Migrantinnen und Migranten“ gehört dazu:
„Insgesamt für die Arbeit, es ist zwar immer müßig zu sagen, sind die Gelder knapp. Sie sind ja nicht insgesamt in der Gesellschaft knapp, aber sie sind falsch verteilt. Auch müßig, das zu sagen. Aber so ist es nun mal. Das heißt natürlich für die Arbeit, aber auch für Begegnungsräume und so weiter, braucht es einfach Ressourcen. Und Ressourcen bedeuten immer Personal und bedeuten hier im Land immer Euros. So ist es einfach. Und das fehlt!“
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Bewohnerinnen. Auf Deutsch Zaubertisch.“
Ein Filmausschnitt der Einweihung des sogenannten Zaubertisches in einer Demenzgruppe eines Altenheimes. Zaubertisch – auf Niederländisch heißt das: Tovertafel. Das Spiel wurde im Nachbarland erfunden und funktioniert so: Ein Videobeamer wirft einen virtuellen Teich mit Goldfischen und Blättern auf den Tisch einer Demenzgruppe. Die alten Menschen können mit ihren Händen die Schwimmrichtung der Fische verändern oder die Blätter von der Wasseroberfläche schieben. Die Tovertafel wird in wenigen Wochen auch in der „Hiwa- Beratungsstelle für ältere Migrantinnen und Migranten“, in Frankfurt am Main zum Einsatz kommen. Teamleiterin Carmen Scharf:
„Wir haben neben dieser sogenannten Dienstagsgruppe, die auch in der Corona-Zeit unter hygienischen Bedingungen mit wirklich wenigen Teilnehmer*innen stattgefunden hat oder weiter stattfindet, haben wir eine Demenzgruppe hier. Und da gibt es so einen tollen Beamer, der heißt Tovertafel und das werden Spiele von der Decke projiziert auf Tische.“
Dass etwa Blätter vom Tisch gewischt werden können, ist im Ladenlokal künftig Teil eines angeleiteten Bewegungsprogramms für Demenzkranke. Ein weiteres Angebot für Migrantinnen und Migranten mit Demenz könnten entlang der Muttersprache zusammengesetzte Demenz-WG´s in Altenheimen sein. Döne Gündüz vom Arbeitskreis Migration in Offenbach:
„Ich denke, ein Modell gegen die Einsamkeit könnte sein, Altenpflegeheime oder Wohnanlagen, wo auch in WG-Form gelebt wird. Das verschiedene Gruppen, es können auch ethnische Gruppen sein, aber auch aus dem gleichen Land eben in Wohneinheiten zusammenwohnen. Ich glaube, damit wäre schon ganz vielen Problemstellungen Abhilfe getan, sowohl der Einsamkeit, der Sprachbarriere, der Pflege. Das würde ich mir schon wünschen.“
Mahshid Najafi hat zunächst einen anderen Weg gefunden, um nicht einsam zu sein. Die umtriebige Rentnerin mit der iranischen Migrationsgeschichte hat sich am Aufbau eines Mehrgenerationenhauses beteiligt, in dem sie nun seit einigen Jahren lebt. Außerdem gehörte sie zu den Initiatorinnen der Internationalen Klein-Gärten in Offenbach, in denen auch viel Gemeinschaftssinn herrscht. Dabei sei es erst einmal nicht so leicht gewesen, eine Fläche für die Gemüsegärten zu finden:
„Jemand von der evangelischen Kirche war in unserer Arbeitsgruppe und dann hat er gesagt: Wir haben ein sehr großes Grundstück und dann haben wir einen Termin mit dem Obersten von der Kirche in Offenbach gemacht. (…) Dann waren wir da, ein paar Leute von unserem Verein und dann hat er zugehört und am Ende hat er gesagt: Wir wollen keine kuschelige Ecke für Ausländer geben. Dann war das Gespräch zu Ende.“
Schließlich fand sich auch ohne die Kirche ein Grundstück in der Stadt mit dem höchsten Anteil an Menschen mit Migrationsgeschichte im Deutschland:
„Es war kein Kleingartenverein, Gott sei Dank! Jeder hat gemacht, was er wollte. Aber da war kein Zaun und wir haben tolle Feiern gehabt und da war eine Musikgruppe, die immer wieder umsonst für uns gespielt hat, bei unseren Sommerfeiern (…) Es war wirklich sehr schön.“
Die Bewegung, die Mahshid Najafi in den Gärten bekam, holt sich Jefri Ari in einer Wandergruppe in Frankfurt am Main, der sie sich angeschlossen hat. Und dies, obwohl Wandern in der Türkei wie in vielen anderen Ländern des Mittelmeerraumes bis vor wenigen Jahrzehnten nahezu unbekannt war. Das hat sich geändert – längst auch für Jefri Ari im Frankfurter Stadtwald:
„Frische Luft und zusammen unterhalten und dann nachher wieder gemeinsam Mittagessen. Ich finde das sehr, sehr gut.“
„Ich habe eine Metapher für Integration.“
Sagt Mahshid Najafi und erzählt eine kleine Geschichte, die ihr im Grüngürtel des Rhein-Main-Gebietes in den Sinn kam:
„Wenn man einen Samen aus Südafrika, aus Sri Lanka, aus dem Iran oder wo auch immer hierherbringt und einpflanzt, muss man irgendwas ändern.“
Dieser Samen würde wahrscheinlich hier nicht aufgehen, wenn man ihn nicht mit einer Plastikplane wärmen würde, so Mahshid Najafi. Und auch wenn er aufgeht, wird die Feldfrucht wohl anders aussehen.
„Und am Ende, was zum Beispiel in Sri Lanka rot wächst, wird hier Orange wachsen. Das ist die Metapher. Und der Boden ist für mich die Mehrheitsgesellschaft, wenn die den Samen annimmt, dann wächst er. Aber auch ein bisschen anders als im Ursprungsland, aber auch nicht genau wie die, die hier sind. Und wenn man nicht aufnimmt, dann werden immer Parallelgesellschaften stattfinden.“
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DLF-Beitrag vom 22.10. 2020
AWO-Affäre in Südhessen: Bereits rund 11 Millionen Euro Schaden
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Fürstliche Geschäftsführer-Gehälter, weit über das übliche Maß hinaus. Luxus-Dienstwagen und ausgedehnte „Dienstreisen“ unter anderem an Mittelmeerstrände. Jobs für AWO-nahe Politiker, damit sie Wahlkämpfe vorbereiten können: Die Liste der Betrugs-und Untreuevorwürfe gegen ehemalige Manager der AWO-Verbände in Frankfurt am Main und Wiesbaden ist ziemlich lang. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren inzwischen ausgeweitet. Der Schaden beläuft sich inzwischen auf rund 11 Millionen Euro. Und nun werfen Rechnungsprüfer der Stadt Frankfurt am Main werfen auch der neuen Verbandsführung Intransparenz vor.
Beitrag beginnt mit O-Ton:
„Der gesamte Vorgang um die Geschehnisse bei der AWO ist ganz, ganz bitter für die Soziallandschaft in Hessen. Und er hat bereits großen Flurschaden verursacht.“
So Hessens Sozialminister Kai Klose von den Grünen unlängst bei einer Landtagsdebatte in Wiesbaden zur AWO-Affäre. Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main ermittelt seit mehr als einem Jahr gegen ehemalige AWO-Geschäftsführer und Berater in Südhessen - unter anderem wegen des Verdachts auf Betrug und Untreue. Der Schaden, der durch offenbar kriminelle Machenschaften in den AWO-Gliederungen in Frankfurt am Main und Wiesbaden entstanden ist, summiert sich bis heute auf einen Betrag von mehr als 11 Millionen Euro.
6,2 Millionen Euro beträgt der Schaden in Frankfurt. Wolfgang Hessenauer, der neue lokale Wiesbadener AWO-Chef, ergänzt die Summen für seine Stadt:
„Nach den ersten Ermittlungen sind es weniger, aber nicht viel. Wir sind auch bei 5 Millionen.“
Ein Großteil davon dürften Steuergelder sein. Wolfgang Hessenauer findet bei seinen Recherchen auch immer wieder neue Fakten, die er für kriminell hält und deshalb fortlaufend der Polizei mitteilt.
Die Polizei, die dafür zuständig ist, die haben sich zunächst erstmal der Frankfurter Dinge angenommen. Sie sind aber inzwischen voll in dem Wiesbadener Thema drin.“
Als Folge des Skandals gehen inzwischen auch die AWO-Mitgliederzahlen in Südhessen zurück. Wolfgang Stadler, der Vorsitzende des AWO-Bundesverbandes mit Sitz in Berlin:
„Zunächst hatten wir angenommen, das hat mit der Pandemie zu tun und der Tatsache, dass man sich einfach nicht mehr trifft und Leute ansprechen kann, wirst du Mitglied der AWO, so wie man das in Clubs oder bei irgendwelchen Veranstaltungen machen kann. Aber da gibt es doch einen deutlichen Unterschied.“
Zum Mitgliederrückgang aufgrund des AWO-Skandals in Südhessen kommen andauernde öffentliche Auseinandersetzungen zwischen den heutigen AWO-Verantwortlichen in Berlin und Frankfurt am Main und dem Revisionsamt der Mainmetropole. Die kommunalen Rechnungsprüfer haben die Aufgabe, die Verwendung städtischer Zuschüsse durch die AWO Frankfurt am Main zu überprüfen. Ende September teilten die Prüfer dem Haupt-und Finanzausschuss des Stadtparlamentes schriftlich mit, die AWO kooperiere aus ihrer Sicht nicht bei den Aufklärungsbemühungen:
Zitatorin:
„Eine Bitte an den AWO-Bundesverband, uns Informationen aus dem AWO-Kreisverband Frankfurt in Bezug auf die Zuwendungen des Stadtschulamtes sowie des Jugend-und Sozialamtes zur Verfügung zu stellen, wurde abgelehnt, da die Prüfungen des AWO-Bundesverbandes nicht diese Sachverhalte zum Gegenstand gehabt hätten.“
Der AWO-Bundesverbandsvorsitzende Wolfgang Stadler weist den Vorwurf der unzulänglichen Kooperation mit der Stadt Frankfurt am Main auf Nachfrage des Deutschlandfunks zurück:
„Wir haben alles, was wir wussten und kannten mitgeteilt. Welche Rolle wir gespielt haben und was uns vorliegt. Haben dann auch darunter geschrieben: ` Bitte, wenn Ihnen noch etwas fehlt, melden sie sich.´ Daraufhin haben wir nie eine Antwort bekommen, sondern nur aus den Medien erfahren, dass dort die Verantwortlichen in irgendeinem Ratsgremium gesagt haben, die AWO hätte sich nicht kooperativ gezeigt. Also das scheint mir eher eine Frage zu sein, dass man hier Verantwortung abschieben will und von eigenen Dingen, die man hätte noch gründlicher machen müssen, ablenken möchte.“
Das Frankfurter Revisionsamt bleibt auf unsere Nachfrage hin bei seiner Kritik – auch am AWO-Kreisverband in der Mainmetropole:„Entgegen öffentlicher Beteuerungen haben wir auch vom AWO-Kreisverband Frankfurt selbst keine Unterlagen erhalten beziehungsweise keinen Einblick in die dem AWO Kreisverband Frankfurt vorliegenden Berichte. Auch der vom Stadtschulamt, vom Jugend- und Sozialamt sowie der Stabstelle beauftragte Wirtschaftsprüfer hat vom AWO-Kreisverband Frankfurt nicht alle erbetenen Auskünfte und Unterlagen erhalten.“
Steffen Krollmann, der neue Vorstandsvorsitzende der AWO in Frankfurt am Main, weist auch diese Vorwürfe des Revisionsamtsleiters Hans-Dieter Wieden zurück. Ende Oktober soll es zu diesem Streit ein Treffen bei der AWO geben, so Krollmann:
„Die Beweggründe von Herrn Wieden sind uns vollkommen unklar, und wir haben ihn eingeladen, um darüber zu sprechen. Und dann wird er uns ja darlegen, wie er auf die Dinge gekommen ist.“
Der FDP-Politiker Yanki Pürsün ist gleichzeitig Stadtverordneter in Frankfurt am Main wie auch Landtagsabgeordneter seiner Partei. Er gilt als eine Art politischer „Chefaufklärer“ des AWO-Skandals in Hessen. Nach seiner Beobachtung arbeiten Stadt und Arbeiterwohlfahrt Wiesbaden bei der Aufarbeitung des AWO-Skandals deutlich besser zusammen als die Akteure in seiner Heimatstadt Frankfurt. Pürsün führt das auch darauf zurück, dass das Wiesbadener Lokalparlament nicht nur für diesen Skandal einen Revisionsausschuss gebildet hat – im Gegensatz zu Frankfurt am Main. Dort fehle im Grunde eine wirksame parlamentarische Kontrolle lokaler Finanzskandale. Der FDP- Landtagsabgeordnete erinnert an die Hessische Gemeindeordnung – kurz HGO- und an die Aufsichtspflicht des Landes:
„Ich habe gedacht, wir haben eine HGO. Wir haben eine Aufsicht durch Regierungspräsidien, Landkreise und hessisches Innenministerium - das so was gar nicht geht, das ist man gezwungen ist, sinnvoll mit dem Revisionsamt zusammenzuarbeiten. Und in Wiesbaden ist es so mit dem Revisionsausschuss, dass es da nicht dieses Partei Klein-Klein gibt, sondern der gesamte Ausschuss zusammenarbeitet, um aufzuklären.“
Der grüne hessische Sozialminister Kai Klose setzt bei der Aufarbeitung des AWO-Skandals vor allem auf die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main. Doch gleichzeitig hat er Gespräche mit den Wohlfahrtsverbänden aufgenommen, um eine neue „Transparenz-Datenbank“ zu den Finanzen der Verbände im Internet aufzubauen. Kai Klose:
„Ich bin ganz sicher, dass eine solche öffentlich zugängliche Datenbank dazu beiträgt, mehr öffentliche Transparenz über alle in der sozialen Arbeit tätigen gemeinnützigen Organisationen zu schaffen.“
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