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"Hesse ist, wer Hesse sein will" Georg August Zinn

Zwischen „prometheischer Scham“ und Plädoyer zum „Selberdenken“


Das „Journal Phänomenologie 63/2025“ beschäftigt sich mit der „Phänomenologie KI-generierter Texte“

Selberdenken – oder Denken lassen? Eigentlich keine Frage für die Philosophie, sollte man meinen. Doch die so genannte „Künstliche Intelligenz“ provoziert die Zunft der Denker*innen. Sie schreibt deshalb darüber, so geht es im Schwerpunkt des soeben erschienenen „Journal Phänomenologie 63/2025“ um KI-generierte Texte. Andreas Großmann, einer der Redakteure des Heftschwerpunktes, schlägt schon mit der Überschrift seines Beitrages Pflöcke ein: „Wider die Verabschiedung des Selberdenkens“ (S.38-41). Stolpern, Ratlosigkeit, Irrtum, „ja auch das Scheitern“ sind für Großmann Voraussetzungen für Neues in der Wissenschaft, KI-Systeme könnten solche Erfahrungen verhindern. Bildungsprozesse seien aber „die Urteilskraft schärfende Erfahrung des Sich-fremd-Werdens“ (S.41). Raum des Denkens und – mit Heidegger - ein „Haus des Seins“ sei die Sprache – auch die Fremdsprache, die man selbst erlernen und nicht dem „KI-Sprachautomaten“ überlassen sollte, fordert Großmann. Ähnlich argumentiert Jörn Kux: „Mir kommt Heinrich von Kleists Aufsatz ‚Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ in den Sinn. Was wenn es keinen allmählichen Verfertigungsprozess mehr gibt? Was, wenn mühsame Lernschritte ausgelassen werden und kein kreatives Vokabular mehr angelegt wird?“ (S.27)
Doch gehört Sprache wirklich „einzelnen Menschen“, fragt Thomas Stäcker in seinem Beitrag zu „Bibliotheken im Zeitalter einer schreibenden KI“. Das Heidegger-Sprach- „Haus des Seins“ heiße nicht „automatisch, dass der Bewohner auch deren Eigentümer wäre“. Im Gegenteil, die Sprache sei eine „Allmende“ (S.46), sie stehe „Menschen und Maschinen gleichermaßen offen“(Ebda.): Der „wissenschaftlichen Bibliothek“ müsse es dabei im Sinne einer „Wissensallmende“ vor allem um eine „politisch unabhängige, qualitätvolle und den wissenschaftlichen Bedürfnissen angepasste Datennahrung“ gehen (S. 48).
Musik etwa aber ist als „kulturelle Praxis“ nicht einfach das Ergebnis des Fütterns von Maschinen und Menschen mit Daten, „nicht das Auftauchen namenloser Klangkonstruktionen, sondern mit Namen, Gesichtern und Geschichten verbunden“, argumentiert Christian Grüny in seinem Beitrag „Genie und Standardisierung. Zu KI und Kreativität“. (S. 28-33). Dass diejenigen, die „irgendwann mal dafür bezahlt worden sind, Musik zu produzieren“, durch die KI-Industrie enteignet werden, wen interessiert das, fragt Grüny sarkastisch.
Philosophischer Nachwuchs wird durch die neue Technologie schon deswegen verunsichert, so Viet Anh Nguyen Duc in seinem Beitrag „Philosophieren in Zeiten des KI-generierten Nihilismus“, weil Studierende inzwischen die Erfahrung machen können, „dass ihre eigenständig verfasste Arbeit schlechter benotet wurde, als die von einer anderen Person, bei denen sie wissen, dass sie ganz klar nur mit Hilfe einer KI haben schreiben können und unfairerweise völlig unbeschadet damit durchgekommen sind (S.52/53).  Andererseits: Um sich „vom standardisierten Tonfall von KI-Texten abzugrenzen, könnten Philosophen dazu veranlasst sein, sich mehr an „außergewöhnlichen oder eigenwilligen Arten von Texten zu versuchen“ (S. 52). Das jedoch berge wiederum die Gefahr, dass ein bestimmter „über jeglichen Selbstzweifel“ erhabener, „experimentierfreudiger Typ von Philosophierenden begünstigt“ werde, der das Fach „zu einer sehr exklusiven Angelegenheit von irritierend zielsicheren Persönlichkeiten“ machen könnte (Ebda.). Das sei aber nun nicht der Sinn der Denk- und Schreibübung, denn: „Letztlich ist Philosophie jedoch ein kollektiver Dienst an der Sache, so kann und sollte sie nie eine einsame Angelegenheit eines – dann wohl auch irrelevanten – Schreibers sein“ (S.53).
Beiträge von Daniel. M. Feige, Jürgen Strasser, Konstantin Schönfelder, Marko Fuchs, Sebastian Weyder-Volkmann und Selin Gerlik, Nora S. Stampfl und Petra Gehring ergänzen den KI-Schwerpunkt dieser aktuellen und sehr anregenden Ausgabe des „Journal Phänomenologie“.
Ein wenig „prometheische Scham“, mit der Günther Anders einst die „Scham vor der ‚beschämend‘ hohen Qualität der selbstgemachten Dinge“ auf den Begriff gebracht hat, spricht noch einmal aus dem Schlussbeitrag von Antonia Egel (S. 74/75): „Die KI werden wir nicht abschaffen, und sie mag da helfen, wo sie wirklich kann.“ Aber, so lautet ihr Schlussplädoyer, mit dem sie die Zielrichtung einiger Beiträge noch einmal zusammenfasst, „(…) gerade das Lernen im Entwicklungszustand – und wann gäbe es diesen je nicht mehr? – muss ein Freiraum sein jenseits der Maschinen, wenn unsere Welt eine der (Mit)menschlichkeit bleiben und werden will.“

Ludger Fittkau, Juli 2025