Die „Aussteigerin“
Rezension zu: Manfred Efinger: Milli Bau. Justus von Liebig-Verlag Darmstadt 2025, 34 Euro
„Schillernd“. So werden gerne Menschen bezeichnet, die jenseits bürgerlicher Konventionen und täglich wiederkehrender Abläufe leben, arbeiten oder lieben. Die Darmstädter Reiseschriftstellerin Milli Bau (*1906 –†2005), die fast 50 Jahre ihres Lebens eine Globetrotterin war, als schillernd zu bezeichnen, wie es bereits im Klappentext der neuen Milli-Bau-Biografie von Manfred Efinger geschieht, ist wahrlich keine Übertreibung: Die blendend aussehende „Aussteigerin“ – so bezeichnet sie sich selbst - verbrachte ihr Leben mit verschiedenen attraktiven Männern auf mehreren Kontinenten, etwa mit einem Ex-Riefenstahl- Geliebten im Faltboot auf einem lateinamerikanischen Dschungel-Fluss, im Zelt auf kalten Andengipfeln oder allein mit dem VW-Bus in den einsamen Sandwüsten des Mittleren oder Fernen Ostens. Jahrelang lebt sie zur Zeit der europäischen 68er-Bewegung in Teheran im Umfeld der Schah-Familie, gegen die gleichzeitig hierzulande die Studenten auf die Straße gehen.
Milli Bau war eine mutige und selbstbewusste Frau – daran kann es kaum Zweifel geben, betrachtet man die jahrelangen Reisen in abgelegenen Weltgegenden, unter zum Teil widrigsten materiellen Umständen. Sie flieht immer wieder aus dem Nachkriegs-Wirtschaftswunderland Deutschland, in dem es sich zum Beispiel ihr Ehemann nach ihrem Geschmack etwas zu bequem gemacht hat. Doch Autor Manfred Efinger zeigt in seiner akribisch recherchierten Biografie auch auf, dass Milli Bau möglicherweise nicht bruchlos als feministisches Vorbild gesehen werden sollte. Sie nimmt es jedenfalls mit ihren Narrativen nicht immer so genau, das reicht von der Angabe ihres Alters über die exakten Umstände der Reiseverläufe und Begleitungen bis hin zur Finanzierung ihres VW-Busses, mit dem sie Mitte der 1950er Jahre auf der Seidenstraße unterwegs ist.
Klappern gehört bei einer freien Journalistin und Schriftstellerin, die versucht, von ihren Reportagen zu leben, allerdings auch zum Handwerk. Dieses Klappern scheint Milli Bau ausgezeichnet verstanden zu haben. Sie schafft es jedenfalls, etwa im öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder in Illustrierten immer wieder Abnehmer für ihre Reiseberichte zu finden, auch wenn das nicht langfristig aus der finanziellen Klemme hilft, in der sie meistens steckt.
Vieles, das Efinger über Bau zusammenträgt, ist so detailliert, dass man sich fragt: Will man das eigentlich so genau wissen? Der Erbschaftsstreit mit der Familie des früh verstorbenen Ehemanns. Ihre jahrelangen Verhandlungen mit der Stadt Darmstadt und der örtlichen Technischen Universität zum Ankauf ihres sogenannten „Asien-Archivs“ – Fotos, Möbel oder Kunstgegenstände, die Milli Bau gesammelt hat. Auch die Einschätzung des Biografen, Milli Baus Lebensweise als Globetrotterin sei wohl eher eine „Reisesucht“ als eine „Reiselust“ gewesen, muss man nicht unbedingt teilen.
Doch die große Stärke des Buches liegt im Versuch, die Widersprüche, die eine solche anti-bürgerliche Lebensweise zwangsläufig mit sich bringen muss, nicht auszusparen: Zur Lust des Allein-Reisens, weil die Erfahrung zuvor als einzige Frau in einer „Männer-Expedition“ nicht nur schön war, gehört eben auch die Erfahrung existentieller Einsamkeit. Zum Staunen über die Farben orientalischer Prachtbauten in uralten Städten kommen auf jahrelangen Reisen im VW-Bus eben auch Unfälle mit Krankenhausaufenthalten oder unpassierbare, weil verschneite Gebirgspässe. Geld ist bei vielen Globetrottern ohnehin notorisch knapp – das war vor 70 Jahren genauso wie heute. Die Seins-Weise als Reisende ist eine Entscheidung. Als Milli Bau mal wieder in einer Sandwüste steckenzubleiben droht, guckt sie in den Spiegel an der Windschutzscheibe, spricht mit selbst und sagt sinngemäß: ‚Niemand hat Dich gezwungen, das hier zu tun. Also – nicht jammern, sondern die Zähne zusammenbeißen und weiterfahren.‘
Ein Manko der Reiseberichte, auch das macht Manfred Efinger dankenswerterweise deutlich, ist Milli Baus weitgehende Kritiklosigkeit gegenüber den politischen Verhältnissen in vielen Ländern, die sie durchstreift. Sicher, sie nimmt das Elend palästinensischer Flüchtlinge in jordanischen Lagern in einer Gegend wahr, die einst das „heilige Land“ genannt wurde. Sie sieht die Spaltung, die es im Nachkriegsbolivien zwischen der älteren „deutschen Kolonie“ und den 16.000 Jüdinnen und Juden gibt, die vor den Nazis aus Europa nach La Paz geflohen sind. Milli Bau bemerkt auch die Armut vieler zerlumpter Kinder auf der Seidenstraße. Eine dezidiert politische Haltung folgt daraus nicht.
Klar ist aber: Den VW-Busse, mit dem Milli Bau oft unterwegs war, konnte sie selbst reparieren, wenn nötig. Sie war überdies mehrmals die einzige Frau bei Expeditions-Begegnungen mit zum Teil „flegelhaften“ Kollegen oder bei unvermeidlichen Treffen mit lateinamerikanischen Militärs. Auch bei Pressekonferenzen etwa im Iran, wenn deutsche Politiker zu Gast waren – all das dokumentieren die Fotos, die Manfred Efinger zahlreich ins Buch aufgenommen hat. In diesem Sinne war Milli Bau tatsächlich eine feministische „Pionierin“. Ihr in der Tat „facettenreiches“ Leben umfassend ausgeleuchtet zu haben, das ist nun das Verdienst der neuen Darmstädter Biografie.
Ludger Fittkau, 30.7. 2025
Rezension:
Frank Schuster: Büchner Sixty-Nine, Roman
Darmstadt 1969. Die Studentenrevolte hallt auch in der beschaulichen kleinen Großstadt nach. Ein rebellischer Jung-Lehrer mischt Schulen in der Region auf, spricht mit Schülerinnen und Schülern auch außerhalb des Bio-Unterrichts über Sex und stiftet sie zum politischen Ungehorsam an. Er verliert seinen Job, die Schülerschaft geht für ihn auf die Barrikaden, sogar die Scheiben einer Straßenbahn gehen zu Bruch – die Büchnerpreisverleihung dieses Jahres muss mit Polizeigewalt geschützt werden. Diese wahre Geschichte bildet den Hintergrund für „Büchner Sixty-Nine“ – den soeben im „mainbook“-Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Roman von Frank Schuster. Der Schüler Michael ist die Hauptfigur, im Laufe der Story geht es in all den politischen Wirren auch um sein Coming Out als Trans-Person. Der Roman ist flott geschrieben, die internationale Hippie-Kultur der 68er Zeit mit Kinderläden, den Stones und Kraut-Rock sowie revolutionären Flugblättern (die manchmal etwas zu ausführlich zitiert werden), wird anschaulich verwoben mit lokalen Besonderheiten, die sich bis heute gehalten haben - ob das gemeinsame Bier der Jugendlichen im Innenstadtpark Herrngarten oder die Demo am zentralen Verkehrsknoten Luisenplatz.
Georg Büchner ist so etwas wie der „rote Faden“ der Geschichte – in Darmstadt, wo er lebte, ohnehin allgegenwärtig. Selbstverständlich sind auch Schüler – Schülerinnen gibt es damals dort noch nicht- des örtlichen Büchner-Gymnasiums am Protest beteiligt, er richtet sich dann auch gegen die alljährliche Büchnerpreis-Verleihung. Frank Schuster macht sehr schön klar, dass der damalige Preisträger Helmut Heißenbüttel eigentlich viel Verständnis für die aufbegehrende lokale Schülerschaft mitbringt. Diese Bezüge machen den Roman-Titel „Büchner Sixty-Nine“ plausibel – wobei die Paläste, denen 1969 der Krieg erklärt wird, nicht mehr von Fürsten regiert werden, sondern von gewählten Sozialdemokraten, von denen einige noch im Widerstand gegen die Nazis aktiv waren. Die mögen es nicht, wenn ihnen von Studierenden und Jung-Lehrer*innen, die kurz zuvor womöglich noch in ihrer Partei waren, faschistoides Verhalten vorgeworfen wird. Frank Schuster verklärt den Protest nicht, macht aber mit einer kleinen Rahmenhandlung, die 2019 spielt und den Klimaprotest der Generation Greta thematisiert, klar: Radikales Engagement der Jugend – ob für eine freiere Schule oder Sexualität oder gegen den Treibhauseffekt – sollte auch von anderen Generationen mit Toleranz aufgenommen werden.
Vor allem für Darmstadt-Liebhaber*innen empfehlenswert!
Frank Schuster: Büchner Sixty-Nine, Roman, 217 Seiten, Mainbook-Verlag FfM, 14 Euro.
Ludger Fittkau, im Juli 2025
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Petra Gehring
Biegsame Expertise
Geschichte der Bioethik in Deutschland
Mit zahlreichen Abbildungen
"Das neue Standardwerk zur Bioethik" (Suhrkamp)
Pressestimmen
»In ihrem monumentalen Übersichtswerk zeigt die Philosophin Petra Gehring, wie die Bioethik in Parlamenten, Medien und Universitäten Einzug fand.« ― DIE ZEIT Published On: 2025-02-26
»[Eine] großartige Zusammenschau ..., die nur jemand zu leisten vermochte, der die ›Verfertigung‹ der Bioethik über lange Zeit und aus der Nähe mitverfolgt und sich zu ihr nicht selten auch zu Wort gemeldet hat.« -- Hans-Jörg Rheinberger ― Frankfurter Allgemeine Zeitung Published On: 2025-02-05
»[Petra Gehrings] Analyse ist … eine hochgradig originelle Wissen(schaft)sgeschichte.« -- Marc Strotmann ― Soziopolis Published On: 2025-05-27
"Wann, wie und warum kam die Bioethik nach Deutschland? Wie konnte sie sich in der Turbulenzzone zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit so erfolgreich etablieren? In Biegsame Expertise schreibt Petra Gehring die spannende Geschichte einer Diskursformation, die binnen weniger Jahrzehnte in einer hochpolitischen Arena entstand. Denn Parlamente, Massenmedien und Protestbewegungen spielten hierbei eine ebenso wichtige Rolle wie Medizin und Recht, Theologie und Philosophie sowie das Zauberwort »interdisziplinär«.
Auf Basis zahlreicher Zeitzeugengespräche und umfangreicher Hintergrundrecherchen schildert Gehring die Debatten etwa um Organtransplantation und Hirntoddefinition, um »Retortenbabys« und Präimplantationsdiagnostik, aber auch die Kämpfe darum, was überhaupt als ethische Expertise gelten soll. Sie zeichnet nach, wie sich die Vorstellung einer instrumentell »anzuwendenden« Ethik zu einem wirkmächtigen Leitbild verfestigt hat. Und sie reflektiert kritisch die Rolle einer Ethik, die zugleich Wissenschaft, Auftrittsformat und mächtige Einflussgröße ist. Biegsame Expertise bietet somit auch eine Theorie der Macht der angewandten Ethik, ist aber vor allem ein fesselndes Stück Zeitgeschichte öffentlicher Moralität." (Quelle: Suhrkamp-Verlag)
Bibliografische Angaben
Fester Einband mit Schutzumschlag, 1500 Seiten, Sprachen: Deutsch
978-3-518-58820-8
Suhrkamp Wissenschaft Hauptprogramm
Preis: 78 Euro
Petra Gehring, geboren 1961, ist Professorin für Philosophie an der TU Darmstadt. Sie arbeitet zu einem breiten Spektrum von Themen, von der Geschichte der Metaphysik bis hin zur Technikforschung und zu den Methoden der Digital Humanities. Sie war u. a. Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und ist derzeit Vorsitzende des Rats für Informationsstrukturen der gemeinsamen Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern sowie Direktorin des Zentrums verantwortungsbewusste Digitalisierung.