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"Hesse ist, wer Hesse sein will" Georg August Zinn


KI-Brillen statt „Freiheit durch Bildung“
Kant wusste noch nichts von heutiger „Künstlicher Intelligenz“, wie sie uns von Tech-Konzernen inzwischen tagtäglich in unseren Schreib-Programmen, auf Tablets und Smartphones aufgedrängt wird. Aber er wusste etwas von menschlicher Bequemlichkeit. Andreas Großmann, der Herausgeber des anregenden Sammelbandes „Zur Zukunft der Bildung. Zwischenrufe und Interventionen“ (Hamburg 2025), hat in Kants Essay „Was ist Aufklärung?“ für die Einleitung zum Buch die Stelle gefunden, die erklärt, warum sich auch in Schulräumen KI-Programme aktuell rasend schnell verbreiten:
„Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes) dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der mich für die Diät beurtheilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen“.


Den Mut zu haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, wie es die Aufklärung forderte, hat eine wichtige Voraussetzung: der eigene Verstand muss eine Chance haben, sich entwickeln und entfalten zu können. Klassisch galt der oder die „Gebildete“ als Voraussetzung von Verstandesgebrauch und Urteilskraft. Konrad Paul Liessmann stellt in seinem Beitrag zum Sammelband fest, dass diese/r „Gebildete“, die/den „wir ja eigentlich als Ziel all dieser Bildungsanstrengungen vermuten müssten, aus dem Wortschatz nahezu verschwunden“ sei (S. 92). „Weder sollen sich die Menschen bilden noch sollen sie gebildet werden, gefordert ist heute der Erwerb von ‚Kompetenzen‘ wie Teamfähigkeit, Kommunikationsbereitschaft, Innovationsfreude und digitale Fitness.“ (Ebda.) Kaum jemandem falle auf, so der Autor, dass es in der Praxis der heutigen Bildungsinstitutionen um „alles Mögliche“ gehen möge – „um die Interessen der Internet-Konzerne, um geschönte Statistiken, um sozialromantische Utopien und um beeindruckende Abiturnoten – aber nicht um Bildung“ (S.97/98). So werde etwa wegen des Digitalisierungstelos „ignoriert, (…) dass Tablet – und Laptopklassen im Vergleich schlechter abschneiden als analog unterrichtete Kinder (…)“.

Stoffvermittlung gilt in den heutigen Schulsystemen als zweitrangig, bald gäbe es ja massenhaft Datenbrillen, die den Stoff schon vor die Augen und von dort direkt ins Gehirn fließen lassen, wird bei Lehrer-Fortbildungsveranstaltungen bereits heute argumentiert. Die Lehrkräfte könnten sich dann den seelischen oder sozialen „Bedürfnissen“ der einzelnen Schüler*innen zuwenden, die Wissensvermittlung sei ja nicht mehr nötig: „(…) von ‚Stoff‘ ist schon lange keine Rede mehr, im Gegenteil: ‚Stoff‘ ist zu einem Unwort geworden, denn, so die Annahme, die Digitalisierung ersetzt diesen durch situative und spontane Informationsbeschaffung“ (S.99). 

Doch wer sorgt für die „Information“ auf den Oberflächen der Datenbrillen und mit welchem Interesse? Haben die Musks, Zuckerbergs und Co. wirklich etwas im Sinn mit dem, was einst Hegel als Voraussetzung für die Lust an Lesen und Lernen bei jungen Menschen erkannte, wie Konrad Paul Liessmann in Erinnerung ruft:
„Schon Hegel wußte, dass der Geist junger Menschen, der frei und neugierig ist, einen Stoff benötigt, an dem er sich nähren, schärfen, entzünden, wachsen und abarbeiten kann. Und dabei geht es nicht um den sogenannten ‚nützlichen‘ Stoff, sondern ‚nur der geistige Inhalt, welcher Wert und Interesse in und für sich selbst hat, stärkt die Seele.‘ (…) Neugier und die Lust am Wissen, die Freude am Lesen, das Verständnis für die Methoden und Ergebnisse der Wissenschaften, die Beherrschung von Fremdsprachen, der Sinn für historische Zusammenhänge, die Schulung des ästhetischen Geschmacks, die Formung einer politischen und moralischen Haltung gegenüber der Welt – all das kann erworben, geübt, verfeinert und weiterentwickelt werden, ganz ohne Digitalisierung.“ (S. 100).

Doch an vielen Schulen werden weiterhin Tablets verteilt- an Schüler*innen und Lehrende. Aber, so befürchtet Liessmann, „die Applikationen und Algorithmen helfen nicht, uns zu bilden, sondern sie nehmen uns die Bildung ab. Unsere digitalen Assistenten lesen für uns und lesen uns das, was sie uns zumuten wollen, vor; wohl könnten wir ihnen befehlen und diktieren, aber wir überlassen die Entscheidung, was uns interessiert, gerne den Algorithmen der Anbieter von Lernsoftware. Wir müssen weder selbst lesen noch schreiben können, um informiert und kommunikationsfähig zu sein“ (S.101).

Das kann nicht das letzte Wort sein. Andreas Gelhard erinnert in seinem Beitrag „Bildung als Befreiung“ daran, dass Hegels Begriff der Bildung „kein pädagogischer Begriff“ ist. Hegels Bildungsbegriff benenne „emanzipative Prozesse, in denen Menschen gegen Widerstände ihre Freiheit verwirklichen“ (S. 185).  Doch was heißt „Freiheit durch Bildung“ im Zeitalter der KI? Der Buchbeitrag Käthe Meyer-Drawes trägt den Titel: „Maschinen, die (mit) Menschen spielen“. Fake News oder ungeheurer Energieverbrauch durch KI seien das eine. Die Veränderung der menschlichen Wahrnehmung bis hin zur „Eliminierung des menschlichen Weltverhältnisses“ das andere: „Damit einher geht ein Prozess der De-Sozialisierung der gegenwärtigen Gesellschaft. Durch ihn verlieren soziale Prinzipien und Strukturen an Bedeutung. Gleichzeitig expandieren die Objektwelten“ (S. 129). Oder klassische Objekte in der Schulbibliothek – die Bücher – werden in den Regalen durch Tablets ersetzt, die gewartet werden müssen: Lese- und Schreibtische werden zu Arbeitsplätzen für Klein-Computer- Reparateure.

Wenn Bildung, so Meyer-Drawe mit Blumenberg, „ganz wesentlich Unverführbarkeit“ bedeute, dann ist die drohende Herrschaft der KI in Schulen das Gegenteil dessen, was Hegel mit „Freiheit durch Bildung“ anstrebte. Das Verdrängen der Bücher durch Tablets in Schulen ist der Sieg der Verführungskünste der Tech- Konzerne und ihrer Handelsvertreter*innen in Schulbehörden und bei Schulträgern. Was dagegen hilft? Leselust fördern! „Der Gebildete ist ein Leser. Doch es reicht nicht, ein Bücherwurm und Vielwisser zu sein. Es gibt – so paradox es klingt – den ungebildeten Gelehrten. Der Unterschied: Der Gebildete weiß Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern (S. 105)“. Kann Schule in Zeiten von KI so etwas anstoßen? Wer kämpft, kann verlieren…

Ein sehr wichtiger Sammelband zur Lage an unseren Bildungseinrichtungen.
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Zwischen „prometheischer Scham“ und Plädoyer zum „Selberdenken“


Das „Journal Phänomenologie 63/2025“ beschäftigt sich mit der „Phänomenologie KI-generierter Texte“

Selberdenken – oder Denken lassen? Eigentlich keine Frage für die Philosophie, sollte man meinen. Doch die so genannte „Künstliche Intelligenz“ provoziert die Zunft der Denker*innen. Sie schreibt deshalb darüber, so geht es im Schwerpunkt des soeben erschienenen „Journal Phänomenologie 63/2025“ um KI-generierte Texte. Andreas Großmann, einer der Redakteure des Heftschwerpunktes, schlägt schon mit der Überschrift seines Beitrages Pflöcke ein: „Wider die Verabschiedung des Selberdenkens“ (S.38-41). Stolpern, Ratlosigkeit, Irrtum, „ja auch das Scheitern“ sind für Großmann Voraussetzungen für Neues in der Wissenschaft, KI-Systeme könnten solche Erfahrungen verhindern. Bildungsprozesse seien aber „die Urteilskraft schärfende Erfahrung des Sich-fremd-Werdens“ (S.41). Raum des Denkens und – mit Heidegger - ein „Haus des Seins“ sei die Sprache – auch die Fremdsprache, die man selbst erlernen und nicht dem „KI-Sprachautomaten“ überlassen sollte, fordert Großmann. Ähnlich argumentiert Jörn Kux: „Mir kommt Heinrich von Kleists Aufsatz ‚Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ in den Sinn. Was wenn es keinen allmählichen Verfertigungsprozess mehr gibt? Was, wenn mühsame Lernschritte ausgelassen werden und kein kreatives Vokabular mehr angelegt wird?“ (S.27)
Doch gehört Sprache wirklich „einzelnen Menschen“, fragt Thomas Stäcker in seinem Beitrag zu „Bibliotheken im Zeitalter einer schreibenden KI“. Das Heidegger-Sprach- „Haus des Seins“ heiße nicht „automatisch, dass der Bewohner auch deren Eigentümer wäre“. Im Gegenteil, die Sprache sei eine „Allmende“ (S.46), sie stehe „Menschen und Maschinen gleichermaßen offen“(Ebda.): Der „wissenschaftlichen Bibliothek“ müsse es dabei im Sinne einer „Wissensallmende“ vor allem um eine „politisch unabhängige, qualitätvolle und den wissenschaftlichen Bedürfnissen angepasste Datennahrung“ gehen (S. 48).
Musik etwa aber ist als „kulturelle Praxis“ nicht einfach das Ergebnis des Fütterns von Maschinen und Menschen mit Daten, „nicht das Auftauchen namenloser Klangkonstruktionen, sondern mit Namen, Gesichtern und Geschichten verbunden“, argumentiert Christian Grüny in seinem Beitrag „Genie und Standardisierung. Zu KI und Kreativität“. (S. 28-33). Dass diejenigen, die „irgendwann mal dafür bezahlt worden sind, Musik zu produzieren“, durch die KI-Industrie enteignet werden, wen interessiert das, fragt Grüny sarkastisch.
Philosophischer Nachwuchs wird durch die neue Technologie schon deswegen verunsichert, so Viet Anh Nguyen Duc in seinem Beitrag „Philosophieren in Zeiten des KI-generierten Nihilismus“, weil Studierende inzwischen die Erfahrung machen können, „dass ihre eigenständig verfasste Arbeit schlechter benotet wurde, als die von einer anderen Person, bei denen sie wissen, dass sie ganz klar nur mit Hilfe einer KI haben schreiben können und unfairerweise völlig unbeschadet damit durchgekommen sind (S.52/53).  Andererseits: Um sich „vom standardisierten Tonfall von KI-Texten abzugrenzen, könnten Philosophen dazu veranlasst sein, sich mehr an „außergewöhnlichen oder eigenwilligen Arten von Texten zu versuchen“ (S. 52). Das jedoch berge wiederum die Gefahr, dass ein bestimmter „über jeglichen Selbstzweifel“ erhabener, „experimentierfreudiger Typ von Philosophierenden begünstigt“ werde, der das Fach „zu einer sehr exklusiven Angelegenheit von irritierend zielsicheren Persönlichkeiten“ machen könnte (Ebda.). Das sei aber nun nicht der Sinn der Denk- und Schreibübung, denn: „Letztlich ist Philosophie jedoch ein kollektiver Dienst an der Sache, so kann und sollte sie nie eine einsame Angelegenheit eines – dann wohl auch irrelevanten – Schreibers sein“ (S.53).
Beiträge von Daniel. M. Feige, Jürgen Strasser, Konstantin Schönfelder, Marko Fuchs, Sebastian Weyder-Volkmann und Selin Gerlik, Nora S. Stampfl und Petra Gehring ergänzen den KI-Schwerpunkt dieser aktuellen und sehr anregenden Ausgabe des „Journal Phänomenologie“.
Ein wenig „prometheische Scham“, mit der Günther Anders einst die „Scham vor der ‚beschämend‘ hohen Qualität der selbstgemachten Dinge“ auf den Begriff gebracht hat, spricht noch einmal aus dem Schlussbeitrag von Antonia Egel (S. 74/75): „Die KI werden wir nicht abschaffen, und sie mag da helfen, wo sie wirklich kann.“ Aber, so lautet ihr Schlussplädoyer, mit dem sie die Zielrichtung einiger Beiträge noch einmal zusammenfasst, „(…) gerade das Lernen im Entwicklungszustand – und wann gäbe es diesen je nicht mehr? – muss ein Freiraum sein jenseits der Maschinen, wenn unsere Welt eine der (Mit)menschlichkeit bleiben und werden will.“

Ludger Fittkau, Juli 2025