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"Hesse ist, wer Hesse sein will" Georg August Zinn


Zwei aktuelle Programmhinweise - beide Sendungen sind nun auch in der Mediathek des Deutschlandfunks zu finden:

Deutschlandfunk:

Versuchter Umsturz
Die Lange Nacht zum 20. Juli 1944

Von Ludger Fittkau
Regie: Sabine Fringes
Keine Frage, ohne die Militärs wäre es nicht gegangen. Nur sie – vor allem Claus Schenk Graf von Stauffenberg – kamen an Hitler heran. Der „Führer“ musste tot sein, damit die einfachen Soldaten ihren aufständischen Offizieren folgen würden. So hofften es auch die Zivilisten, die den 20. Juli 1944 mit vorbereitet hatten – Männer wie Frauen. Aber es mussten auch viele andere Bereiche bedacht werden, in denen der nationalsozialistische Apparat gestoppt werden müsste. Entsprechend zahlreich waren die Verschwörer. 80 Jahre nach dem gescheiterten Umsturzversuch geht es diesmal zuerst um die Frauen, die maßgeblich beteiligt waren. Ihre Geschichte wird bis heute kaum erzählt. Bei den Militärs wiederum ist der Scheinwerfer nicht in erster Linie auf Stauffenberg gerichtet, dessen zentrale Rolle beim Umsturzversuch ja längst auch von Hollywood gewürdigt wurde. Diesmal stehen andere, weniger bekannte Offiziere im Vordergrund. Nicht zuletzt aber geht es um die zivilen Akteure des 20. Juli 1944. Um linke Gewerkschaftsführer oder fromme Katholikinnen, die einen Kernsatz ihres Glaubens für eine kurze Spanne ihres Lebens beiseitegeschoben hatten: „Du sollst nicht töten!“ Bisher unveröffentlichtes Archivmaterial fließt in die Sendung ein. Etwa das Tagebuch eines überlebenden Umsturzbeteiligten. In den Nachkriegsjahren wollte es niemand veröffentlichen, obwohl der Verfasser viele Verlage anschrieb. Lange Zeit galten die Frauen und Männer des 20. Juli 1944 in der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit als „Vaterlandsverräter“ – die Stimmen der Überlebenden des Umsturzversuches wollte man in der Öffentlichkeit meist nicht hören. Es war nicht zuletzt das Radio, das ab den 1950er-Jahren damit begann, die Stimmen derjenigen zu sammeln und zu senden, die der Rache der Nationalsozialisten entkommen waren – oft nur mit sehr viel Glück! Die gesammelten Frauen- und Männerstimmen machen deutlich: Der Umsturzversuch des 20. Juli 1944 war weit mehr als ein Militärputsch.


Wer es etwas kompakter, aber durchaus noch im Feature-Format haben will, dem sei eine Wiederholung eines 45-Minuten-Beitrages aus dem Jahr 2019 am 16.7. im Deutschlandfunk Köln ans Herz gelegt:
19:15 Uhr
Feature
Deckname „Onkel“
Wilhelm Leuschner und der zivile Widerstand hinter dem 20. Juli 194
4

Von Ludger Fittkau
Regie: Susanne Krings
Produktion: Deutschlandfunk 2019
Wenn das Stauffenberg-Attentat auf Hitler geglückt wäre, hätten Tausende Zivilisten Polizeistationen und Radiosender besetzt und lokale Verwaltungen übernommen. Wilhelm Leuschner, zu Zeiten der Weimarer Republik SPD-Innenminister in Hessen, hatte das Netzwerk konspirativ aufgebaut. Doch das Signal aus Berlin kam nicht. Die Militärs um Stauffenberg oder der Kreisauer Kreis nannten ihn „Onkel“. Für sozialdemokratische, christliche oder gewerkschaftliche Verschwörerinnen und Verschwörer gegen Hitler war er auch „der Hauptsächliche“ oder ein „Briefmarkenfreund“ aus Berlin. Jahrelang arbeitete Wilhelm Leuschner im Untergrund daran, eine breite Bewegung für einen Sturz der nationalsozialistischen Diktatur zu entfachen. Die Gestapo fragte ihn regelmäßig misstrauisch, wen er auf seinen vielen Reisen durch das Land eigentlich treffe. Leuschner reiste offiziell als Industrieller, die Nationalsozialisten enttarnten sein konspiratives Netzwerk nicht. Nach dem gescheiterten Attentat wurde Leuschner hingerichtet. Viele seiner Mitstreiter blieben unerkannt und kamen mit dem Leben davon.
Schließlich gibt es im „Zeitfragen- Magazin“ am 17.7. ab 19.05 Uhr im DLF Kultur noch einen 6-Minuten-Beitrag, der sich mit den Missverständnissen und Mythen rund um den 20. Juli 1944 auseinandersetzt.


Das Buch ist erschienen und im Buchhandel zu erhalten:

»Der soll dein Herr sein? Frauen entscheidet Euch!« Aus dem hohlen Kopf Adolf Hitlers ragt ein Büschel Stroh heraus. Die Karikatur ist auf die Titelseite einer Broschüre gedruckt, gleich darunter der Name der Autorin des Textes: Käthe Kern, vor 1933 Gewerkschafterin im Allgemeinen freien Angestelltenbund (AfA) sowie SPD-Frauenpolitikerin. Die Gestapo zögert nicht, sie zu verhaften, als sie die Macht dazu hat. Nach ihrer Entlassung arbeitet die gebürtige Darmstädterin in Berlin mit dem Widerstandskämpfer Wilhelm Leuschner zehn Jahre lang eng zusammen.

Leuschners überregionales Untergrundnetz umfasst mehrere hundert Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Sozialdemokratinnen und -demokraten. Es wird Teil des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944. Die zentrale Rolle der Frauenrechtlerin Käthe Kern in diesem »sozial-fortschrittlichen Kreis« (Elfriede Nebgen) der Konspiration gegen Hitler ist bisher wenig bekannt. Wohl auch deshalb, weil sie als Überlebende der Hauptstadtgruppe um Leuschner nach der Gründung der DDR in Ost-Berlin bleibt und dort zeitweise eine führende frauenpolitische Funktion im SED-Apparat innehat. Die DDR-Geschichte der Käthe Kern überlagert bisher das Erinnern an ihr Engagement für den 20. Juli 1944. Dieses Buch bietet ein neues, facettenreiches Bild der langjährigen Wegbegleiterin Leuschners.


Aus der Einleitung:


Dieses Buch ist eine Biografie – und ist es nicht. Zum einen erzählt es die Geschichte einer der führenden Zivilistinnen beim Umsturzversuch des 20. Juli 1944. Ihr Name ist Katharina Kern, genannt Käthe. Bereits ihr Geburts- und ihr Sterbeort zeigen: Es ist eine deutsch-deutsche Geschichte. Geboren wurde Käthe Kern am 22. Juli 1900 in der südhessischen Stadt Darmstadt. Sie starb am 16. April 1985 in Ost-Berlin, der damaligen Hauptstadt der DDR. Obwohl sie bis kurz vor ihrem Tod ihre alte Heimat Hessen immer wieder besuchte, wurde Käthe Kern dort vergessen. Zu Unrecht, das zeigt dieses Buch. Denn sie war die wohl wichtigste hessische Widerstandskämpferin gegen Hitler. Vergessen wurde sie im Westen jedoch, weil sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg dafür entschied, in der DDR zu leben. Warum sie das tat, gehe ich vor allem im zweiten Teil dieses Buches nach. Zunächst geht es darum, Kerns Rolle im sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Widerstand gegen Hitler zu beschreiben, der am 20. Juli 1944 hinter Claus Schenk Graf von Stauffenberg und den anderen Offizieren stand, die den Umsturzversuch durchführten.
Über die Biografie Käthe Kerns hinaus geht dieses Buch jedoch, in dem es die These verfolgt, dass rund um Kern ein regelrechtes Frauen-Netzwerk im Widerstand gegen Hitler existierte. Um das zu belegen, gibt es biografische Seitenblicke etwa auf Elfriede Nebgen sowie vor allem auf Elly Deumer und ihre Familie, die zum Teil in regelrechte Exkurse münden. Zuverlässig wird die Leserschaft jedoch wieder auf Käthe Kern zurückgeführt, die Hauptprotagonistin dieses Textes. Ihre Geschichte belegt einmal mehr: es waren nicht nur Militärs und nicht nur Männer, die ihr Leben einsetzten, um Hitler zu stürzen. Doch immer wieder wird hartnäckig an dem Mythos gearbeitet, der 20. Juli sei ausschließlich eine Aktion der zu diesem Zeitpunkt rein männlichen Militärs gewesen. Claus Schenk Graf von Stauffenberg wusste jedoch: Wenn der Umsturzversuch gelingen soll, muss er sich jenseits der Offiziere auf verlässliche demokratische Kräfte stützen, die eine Übergangsregierung bilden können. Dabei setzte er auch auf sozialdemokratische sowie christliche Gewerkschaftskreise, in denen mit der christlichen Gewerkschafterin Elfriede Nebgen und der Sozialdemokratin Käthe Kern zwei Frauen führend tätig waren. Beide gehörten zu einer mehrere hundert Menschen umfassenden Oppositions-Organisation, die vom christlichen Gewerkschafter Jakob Kaiser und dem Sozialdemokraten Wilhelm Leuschner geführt wurde. Im „Kaiser-Leuschner-Widerstandsnetz“, zu dem später auch Carl Friedrich Goerdeler stieß, spielte Käthe Kern viele Jahre lang eine zentrale Rolle, das zeigt dieses Buch.
Zur Methodik des Textes: Die schriftlichen Überlieferungen mehrerer beteiligter Frauen werden nachfolgend immer wieder ineinander geblendet. Dadurch wird der 20. Juli 1944 zwar noch nicht zur Frauenbewegung, aber der Widerstand auf dem zivilen Flügel wird um eine Perspektive erweitert, die bisher wenig beachtet wurde. Auf dem Gewerkschaftsflügel des Widerstands waren noch sehr viel mehr Frauen aktiv. Elly Deumer agierte beispielsweise als Fluchthelferin für Wilhelm Leuschner. Auch Elisabeth Leuschner versuchte, ihren Mann nach dem 20. Juli 1944 vor der Gestapo zu retten. Diese beiden entschlossenen Frauen haben später schriftlich festgehalten, was in den Wochen des Umsturzversuchs und danach geschah.
Dass Wilhelm Leuschner, der ehemalige hessische Innenminister, einer der Köpfe des zivilen Flügels in der Bewegung des 20. Juli 1944 war, ist historisch inzwischen gut aufgearbeitet. Vor allem in Hessen und in Berlin, wo er politisch jahrzehntelang agierte sowie auch in Franken, wo er seine Kindheit verbrachte, wird die Erinnerung an Leuschner gepflegt. Ganz anders steht es um das Gedenken an seine enge politische Mitstreiterin Käthe Kern - selbst in ihrer Heimatstadt Darmstadt. Dies hat damit zu tun, dass die Rolle der Frauen im Widerstand lange nicht beachtet wurde. Das Frauenbild der Nachkriegsjahre spielte dabei eine Rolle. Festzustellen ist jedenfalls: Viele Frauen des 20. Juli 1944 wurden lange Zeit fälschlicherweise meist als weitgehend passive Mitwissende betrachtet, die bestenfalls ihren aktionsbereiten Männern den Rücken freihielten, Wohnungen für konspirative Treffen zur Verfügung stellten oder gelegentlich einen Kurierdienst übernahmen. Dabei berichtete etwa Elfriede Nebgen bereits in den 1960er Jahren in einem Buch über Jakob Kaiser einiges über ihre entschlossene Widerstandsarbeit gegen Hitler. Auch dies wurde in der Folge weitgehend vergessen. Sie hat dort die Namen weiterer Frauen genannt, die aktiv gegen das Regime arbeiteten. Käthe Kern schrieb ebenfalls über ihre „Widerstandsgruppe Wilhelm Leuschner“, vor allem in Zeitungsartikeln. Unmittelbar nach dem Kriegsende war das noch problemlos in Ost- wie in Westzeitungen möglich. Doch der Stalinismus hat diese Erinnerungsarbeit sehr schwer gemacht und ab Ende der 1940er Jahre zum Teil sogar wieder konspirative Aktionen über Zonengrenzen hinweg nötig werden lassen, an denen Käthe Kern aktiv beteiligt war. Auch das ist ein Ergebnis der Forschungen, die in das vorliegende Buch eingeflossen sind.
Frauen, die aktiv gegen Hitler arbeiteten, sollten mehr in den Vordergrund gerückt werden. Dies erkannte 2019 auch der Deutsche Bundestag. 75 Jahre nach dem gescheiterten Umsturzversuch des 20. Juli 1944 formulierten die Fraktionen von CDU/CSU und SPD einen gemeinsamen Antrag, damals waren beide Regierungsfraktionen. Der Text stammt vom 25. Juni 2019 und trägt die Überschrift „Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus würdigen“.  Dieses Parlamentspapier weist weit über den Tellerrand des jeweils eigenen politischen Lagers hinaus. Mehrere Dutzend Frauen verschiedener politischen Couleur werden als Widerstandskämpferinnen genannt, damit wird der Text selbst zu einem kleinen Denkmal. Die Abgeordneten erinnern daran, dass die „Wege zur Anerkennung des Widerstandes im Nachkriegsdeutschland lang waren“. Was heute selbstverständlich erscheine, sei das Ergebnis eines „langen und vielfach widersprüchlichen Prozesses“ gewesen. Vieles sei „ignoriert, verdrängt und vergessen“ gewesen, „lange Jahre“ auch das Schicksal der Frauen des 20. Juli 1944.
Nicht zuletzt dieses Bundestagspapier hat mich ermutigt, der Geschichte einiger weiterer, bisher wenig bekannter oder auch vergessener Hitlergegnerinnen nachzugehen. Denn auch wenn das Papier viele Namen auflistet und damit zu eingehenderen Forschungen anregt, gibt es noch weitere, im Text nicht genannte Frauen, die rund um den 20. Juli 1944 selbstlos agiert haben. Vor allem aber fehlt der Name Käthe Kern, der Name der einzigen Frau in der Berliner Führung der konspirativen Organisation Leuschners. Ihre Rolle und die ihrer Netzwerke in der Opposition gegen Hitler sowie nach der Befreiung vom Nationalsozialismus sollen deshalb nachfolgend im Detail untersucht werden. Damit – so der Anspruch – wird eine weitere Forschungslücke gefüllt. Durch die Kombination schriftlicher Überlieferungen, die in dieser Form erstmals abgeglichen werden, ergeben sich viele neue Einsichten zum zivilen Flügel des 20. Juli 1944 – etwa zum dramatischen Fluchtgeschehen unmittelbar nach dem gescheiterten Umsturzversuch. Frauen spielten gerade in dieser Phase eine entscheidende Rolle.
Letztlich geht es im folgenden Buch nicht allgemein um „die Frauen um Leuschner“. Sondern es geht vor allem um die Frauenrechtlerin Käthe Kern als eigenständige, politisch über Jahrzehnte agierende Persönlichkeit zwischen Ost und West, zwischen offener Opposition gegen Hitler und offensichtlicher Anpassung an Stalin. Es geht um ihr politisches und privates Frauen-Netzwerk, an dem sie über Systemgrenzen hinweg festhält, so gut es geht. Schließlich geht es um die Rekonstruktion des erinnerungspolitischen Zieles, das Käthe Kern beharrlich verfolgt: Nämlich das Gedenken an ihre Widerstandstrukturen gegen den Nationalsozialismus trotz politischem Gegenwind in Ost und West in den Nachkriegsjahrzehnten aufrecht zu erhalten.

1 Jahr russischer Angriffskrieg in der Ukraine

„Sie zwingen die Menschen zum Beispiel, alles Ukrainische abzulegen“

- Iryna (Name aus Sicherheitsgründen geändert) vom Asowschen Meer erzählt am Rande einer Solidaritätskundgebung von ihren Gefühlen ein Jahr nach Kriegsbeginn/ Vom Leben ihrer Eltern unter russischer Besatzung/  Von der Hoffnung auf Befreiung -

Ich komme aus der Ukraine und bin schon seit neun Jahren in Deutschland. Aber unsere gesamte Familie, unser Eltern, Tanten, Omas, Opas sind in der Ukraine.


Ich glaube, durch den Kopf geht uns jeden Tag  - wie allen Menschen hier -  eine Frage: Ob es einen gut geht, ob sie die Nachtruhe überstanden haben und wie es weitergeht. Und wann das Grauen ein Ende findet.

Unsere Familie ist in Berdjansk.


(Berdjansk ist eine Großstadt in der Ukraine mit rund 115.000 Einwohnern (2014). Die Stadt ist das Zentrum des gleichnamigen Rajons Berdjansk im Süden der Oblast Saporischschja am Ufer des Asowschen Meeres.)

Das ist das Asowsche Meer, an der Küste, in einem besetzten Gebiet. Sie sind schon seit fast einem Jahr in der Unterdrückung.  Sie haben Angst, rauszugehen. Mittlerweile gehen meine Eltern fast kaum aus dem Haus. Die wohnen in so einem kleinen Dorf neben Berdjansk, 10 Kilometer entfernt.  Das Leben dreht sich nur um einen Hof und ums Überleben.

Frage: Sie haben es gesagt, es gibt Unterdrückung im besetzen Gebiet.  Was heißt das alltäglich? Man geht nicht raus. Was machen die Russen dort?

Iryna: Sie zwingen die Menschen zum Beispiel, alles Ukrainische abzulegen, sich dem Russischen zuzuwenden, und zwar nicht im netten Sinne, sondern: Wenn man Arbeit finden möchte, dann muss  man sich russische Papiere nehmen. Wenn man das nicht möchte, wie meine Eltern zum Beispiel, dann hat man keine Arbeit, dann muss man gucken, wie man klarkommt. Menschen verschwinden, die etwas dagegen sagen, manche tauchen nie wieder auf. Es sind Menschen zum Beispiel wie in unserem Dorf, die zu Verrätern wurden. Menschen, von denen man nie hätte glauben können, dass so etwas passiert. Denn das sind Nachbarn, die dann zu meinen Eltern ins Haus kamen und haben gesagt: sie sollen den neuen Herrschern jetzt ihre Treue aussprechen. Als meine Mutter gesagt hat, sie sollen aus dem Haus gehen, haben die gesagt: Sie soll sich gut überlegen, was sie sagt, weil die sind hier für immer.

Das ist schwierig. Von Nachbarn, aus der Nachbarstraße, die Familie kenne ich auch mein ganzes Leben lang. Ich hätte ich nie geglaubt, dass es so weit kommt. Aber es sind nicht die Einzelfälle. Sind viele Menschen, die einfach die Schuhe gewechselt und sich angepasst haben. Aber dafür habe ich kein Verständnis.


Frage: Wie halten Sie Kontakt mit ihren Eltern?

Iryna: Es gibt Internet. Es funktioniert nicht immer. Wenn Bewegungen von Soldaten da stattfinden, halten sie alles dicht. Dann kann man nicht anrufen, weder eingehende noch ausgehende Anrufe tätigen. Aber die meiste Zeit geht es noch. Gottseidank. Ja, ich möchte gar nicht darüber nachdenken, würde es das nicht geben.


Ich habe meine Eltern fast angefleht, zu kommen. Noch am Anfang, als es noch möglich war. Aber die wollten meine Omas und Opas nicht verlassen, sie schon alt sind und würden so eine Reise einfach nicht überstehen. Obwohl die gesagt haben, meine Eltern sollen gehen, sie sollen sich retten. Meine Eltern wollten das nicht. Sie sind zuhause geblieben. Er fallen so immer wieder die Worte: Ja, wenn unser Schicksal ist, zu sterben, dann wollen wir es zu Hause. Aber ich versuche nicht, darauf einzugehen. Ich hoffe immer noch, dass alles gut ausgeht.


Die Hoffnung in die ukrainische Armee ist groß, auch in den besetzten Gebieten, was meine Familie angeht. Ich werde nie vergessen: Als der Winter anfing und der Frost anfing, hat meine Mama so gute Laune gehabt und hat sich so gefreut und sagte: Endlich kommen unsere Jungs voran, weil unsere Gebiete sind nur Felder, soweit das Auge reicht. Und dieses matschige Wetter hat natürlich das Vorrücken deutlich erschwert. Und meine Eltern haben sich gefreut. Die warten sehnsüchtig, das die Befreiung kommt.

Lebensmittelversorgung? Schwierig. Seit einigen Wochen können meine Eltern nicht mehr in die Stadt, weil dafür man auch russische Papiere braucht, um über diese Kontrollpunkte zu kommen. Die versorgen sich selbst. Meine Eltern im Dorf haben noch Holzofen, die fällen da Obstbäume im Garten. Da sind sie versorgt. Sie haben Vieh, das hatten sie schon vorher. Das hilft sehr. Also im Dorf ist es wesentlich einfacher als eben in der Stadt. Und man hilft sich gegenseitig.

Ich bin fast jeden Samstag hier und ich finde es sehr wichtig. Ich finde sehr wichtig, den anderen Menschen, die hierher geflüchtet sind, zu zeigen, dass wie für die auch da sind, dass sie nicht vergessen sind, dass die Leute in der Ukraine nicht vergessen sind. Ich erzähle - also Bilder schicken tue ich nicht nach Hause, weil die Handys überprüft werden-  aber ich erzähle von diesem Treffen und das heitert sie auf. Das gibt denen auch Hoffnung, die haben ja keinen Zugang zu den Medien. Dass es  in Deutschland so  was gibt es, dass die Menschen, fremde Menschen, auch Deutsche, die, wie man glauben könnte, nichts damit zu tun haben, auch trotzdem jeden Samstag herkommen. Und dass also  gibt Hoffnung.

Ich bin als Au-pair-Mädchen nach Deutschland gekommen, wollte ein Jahr hier die Sprache lernen und dann wieder nach Hause. Dann habe ich aber meinen Mann hier kennengelernt. Und so bin ich hiergeblieben und musste gucken, wie wir klar komme. Ausbildung gemacht und bin jetzt eine Arzthelferin. 


Frage: Sie sind wahrscheinlich für die Gemeinschaft hier wichtig, weil sie natürlich perfekt Deutsch sprechen und auch die Behörden kennen?

Iryna: Man kann schon helfen. Es gibt hier viele Mädels, die solche Arbeit machen. Ich habe mich freiwillig gemeldet, werde ab und zu angerufen, wenn auch Soldaten nach Deutschland gekommen sind, etwas zu regeln. Wenn Übersetzung benötigt wird.  Gottseidank gibt es viele Mädels von uns, die auch dasselbe tun. Ja, diese Solidarität, Zusammenhang, das ist sehr wichtig.


Also, wir tun hier was. Jeder versucht, was zu tun, und jedes Tun ist wichtig, finde ich.

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Deutsche Unterstützerin Natascha


Ja, mein Name ist Natascha und ich arbeite in der Altenpflege.


Immer noch Fassungslosigkeit. Man kann es eigentlich immer noch nicht glauben. Dass es eben nach einem Jahr immer noch dieser Krieg läuft. Also ich hatte tatsächlich bis vor dem Krieg wenig mit der Ukraine zu tun. Man hat natürlich mitbekommen - die Krim-Krise oder halt eben auch im Donbass. Der Krieg, der ist schon seit 2014, aber ich hatte ansonsten keine weitere persönliche Beziehung. Das hat sich dann erst einfach ergeben durch die Demonstrationen hier.


Ich bin dann am Samstag zu den Demonstrationen dazu gestoßen. Und diese Initiative hat sich ja dann auch mit der Zeit ergeben, man hat sich dann einfach kennengelernt. Ja, es ist dann so eine Gemeinschaft entstanden. Man freut sich dann auch, wenn man sich dann hier samstags trifft und ja versucht halt dann gemeinsam etwas zu bewirken.


Es gab ein Begegnungszelt, was jetzt im Winter halt dann nicht mehr läuft. Aber im Sommer, da war auch einmal ein kleines Konzert gewesen Klavierkonzert. Die Unterstützung, ist natürlich ganz wichtig, dass also weiterhin die Leute, auch hier die Menschen zu den Demonstrationen kommen, einfach sich hier zeigen. Diese ukrainische Flagge, die ich habe, die habe ich mir dann auch ziemlich am Anfang dann gekauft, weil ich einfach auch zeigen wollte, dass ich da solidarisch bin. Und man sieht das ja auch, dass viele Menschen dann auch mit den Flaggen hier stehen. Dann das einfach als Zeichen der Solidarität.


Das ist wichtig, dass es nicht vergessen wird. Es ist wichtig, dass nicht nach einem Jahr eine Müdigkeit eben Eintritt, sondern dass man wirklich weiter am Ball bleibt und zeigt, dass man weiter an dem Thema ist und dass es eben nicht auf die zweite Seite gerutscht.


Es ist eine schöne Gemeinschaft, die sich hier dann ja auch gebildet hat. Man kennt sich, das ist immer weiter aufgebaut worden. Was die Mädels hier auf die Beine stellen, ist ja diese Initiative. Viele Projekte, die sie unterstützen, Fahrzeuge, die dann tatsächlich angeschafft werden. In die Ukraine fahren, humanitäre Hilfe.


Wir arbeiten ja auch an einem Buch.  Über die Solidarität hier. Und da hatte ich auch mit jemandem gesprochen und auch gesagt hat, dass er schon die neunte Fahrt dann in die Ukraine unternimmt. Das Auto wird immer voll gepackt oder auch Geldspenden, die gesammelt werden, um dann dort Sachen zu kaufen. Generatoren, was jetzt auch ein großes Thema ist. Solche Angriffe auf die Energieinfrastruktur.







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Kultur heute im DLF, 25.1.2023: 

Airbag für Kunst-Kollisionen muss kommen

- Der documenta-Antisemitismusskandal als Thema einer Veranstaltung im Jüdischen Museum FfM -

Der documenta-Antisemitismus-Skandal wirkt an vielen Orten des Kunstbetriebs nach. Das wurde gestern Abend auch bei einer Diskussionsveranstaltung im Jüdischen Museum Frankfurt am Main deutlich. Einig war man sich auf dem Podium: der Bund muss bei der nächsten documenta wieder mehr Verantwortung übernehmen. Und: Es fehlt bis heute in Kassel eine Art Airbag für den Moment, in dem es zu einer Kollision etwa von Kunstfreiheit mit dem Verdacht der Volksverhetzung kommt – wie im Fall des Antisemitismusskandals. 

Nicole Deitelhoff legte ihn auf den Beistelltisch – den mehrere hundert Seiten langen Abschlussbericht des documenta 15- Begleitgremiums, das sie im vergangenen Jahr leitete. Noch ist er nicht öffentlich, weil der documenta-Aufsichtsrat noch darüber diskutieren muss. Doch die Politikwissenschaftlerin von der Goethe-Universität Frankfurt verriet nach der Veranstaltung dann doch schon die Haupt- Forderung der Kommission an die documenta-Verantwortlichen: „Ich glaube, eine der zentralen Fragen, die wir uns stellen müssen: Wie kann man zukünftig eine Organisation wie die documenta strukturieren, damit, wenn es zu Kollisionen kommt, wenn es zu Konflikten kommt, tatsächlich auch eine Handhabe, also Instrumente vorhanden sind, um Entwicklungen, die sozusagen in die falsche Richtung laufen, zu stoppen. Das gibt es momentan nicht in dem Maß, indem man sich das wünschen würde. Und daran muss gearbeitet werden.“


Dass der Antisemitismus-Skandal bei der letztjährigen Ausgabe der documenta ein Skandal mit Ansage war, betonte noch einmal die Literaturwissenschaftlerin Mirjam Wenzel, die Leiterin des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main. Verantwortung trägt für sie vor allem die Findungskommission für die documenta 15, in der einige bekannte Unterstützerinnen und Unterstützer der Boykottkampagne BDS gegen Israel gesessen hätten, so der Vorwurf. Diese Kommission sei dann überdies zum documenta-Beirat gemacht worden:
„Das ist ja etwas, was ich viel zu wenig thematisiert finde. Es gab Mitglieder in der Findungskommission, die bekannt sind, dass sie eine politisch aktivistische Positionierung mit Blick auf den palästinensischen Kampf haben. Es wurde aus der Findungskommission zum ersten Mal in der Geschichte der Documenta ein Beirat gemacht. Ein Beirat hat die Aufgabe, die Arbeit kritisch zu begleiten. Eine Findungskommission kann nicht die Arbeit kritisch begleiten derjenigen, die sie vorgeschlagen hat, weil sie da eine Bindung hat.“

Heinz Bude ist Kasseler Soziologe und Leiter des documenta-Instituts, dass sich aktuell vor allem mit der NS-Verstrickung von Werner Haftmann beschäftigt, einem der ersten documenta-Macher der 1950er Jahre. Er arbeitete in der Diskussion noch einmal das Paradox heraus, in das sich das verantwortliche Kollektiv „Ruangrupa“ hereinmanövriert hatte: Seine Mitglieder wollten aus der documenta ein soziales Ereignis machen. Als aber die Gesellschaft eine Debatte über Antisemitismus forderte, seien sie stumm geblieben und hätten damit die Kommunikation verweigert, die sie eigentlich zum Kern der documenta 15 erklärt hatten. Die Forderung auf dem Podium aber, die documenta 15 hätte sich auch mit Haftmann und ihrer eigenen Antisemitismusgeschichte der Nachkriegsjahrzehnte beschäftigen müssen, hält er für zu weitgehend: „Das würde ich nicht befürworten. Das wäre eine historistische documenta. Man muss sich überlegen: Was war das für eine Haltung, die Haftmann hatte und die andere Kuratorinnen und Kuratoren hatten? Und möglicherweise noch einmal überlegen: Ist eine Gruppe ein guter Punkt, oder soll man es nicht doch noch mal mit einer einzelnen Person machen? Und vielleicht auch, dass man keine Angst vor Charisma haben muss, auch bei der documenta.“

Aus dem Publikum heraus stellte vor allem der Publizist Michel Friedman am Schluss noch einmal vehement die Frage nach denjenigen, die die Verantwortung für den Skandal tragen. Damit skizzierte er gewissermaßen „den Skandal nach dem Skandal“ - wie nämlich die ehemalige Generaldirektorin der documenta und auch der Aufsichtsrat auf die Entdeckung der antisemitisch zu lesenden Werke reagiert haben. Diesem Punkt wird im Untersuchungsbericht ein ganzes Kapitel gewidmet sein, kündigte Nicole Deitelhoff an.

Das Fazit der leidenschaftlich geführten Diskussion: Der documenta-Skandal wirkt nach, er ist noch lange nicht aufgearbeitet. Die entscheidenden Schritte stehen noch an. Vor allem die Frage, welche Konflikt-Aufarbeitungsstrukturen es in Kassel künftig geben wird, falls der nächste Kunstskandal kommt. Denn die Kunstfreiheit bedeutet wohl: Skandale sind nicht zu vermeiden. Entscheidend ist, wie die Verantwortlichen damit umgehen. Diese Lektion ist noch nicht gelernt.